Black Box
Ohrbügel und setzte sie auf. Sein Blick ruhte, ohne zu blinzeln, auf dem lichterfüllten Gefäß. Eine Weile lang lauschte er aufmerksam, dann zog er die Stirn heraus.
»Ich kann gar nichts hören«, sagte er und hob die Hände, um die Ohrbügel wieder abzusetzen.
Alinger hielt ihn zurück. »Warte. Es gibt die unterschiedlichsten Arten von Stille. Die Stille in einer Muschelschale. Die Stille nach einem Schuss. Sein letzter Atemzug ist noch immer da drin. Deine Ohren müssen sich erst daran gewöhnen. Nach einer Weile wirst du etwas hören. Seine ganz eigene letzte Stille.«
Der Junge senkte den Kopf und schloss die Augen. Die Erwachsenen beobachteten ihn schweigend.
Auf einmal riss er die Augen auf, schaute hoch, und sein rundliches Gesicht leuchtete vor Begeisterung kurz auf.
»Hast du ihn gehört?«, fragte Alinger.
Der Junge setzte die Ohrbügel ab. »Wie ein Schluckauf, nur rückwärts! Wirklich – wie …« Er hielt inne und atmete kurz und lautlos ein.
Alinger fuhr ihm durchs Haar und richtete sich auf.
Die Mutter tupfte sich die Augen mit dem Taschentuch ab. »Und Sie sind Arzt?«
»Im Ruhestand.«
»Finden Sie das Ganze nicht irgendwie unwissenschaftlich? Selbst wenn es Ihnen tatsächlich gelungen sein sollte, das letzte Restchen Kohlenmonoxid einzufangen, das jemand ausgeatmet hat …«
»Dioxid.«
»Das kann man doch nicht hören. Man kann das Geräusch des letzten Atemzugs eines Menschen nicht in Flaschen abfüllen.«
»Nein«, stimmte er zu. »Nicht das Geräusch. Nur eine ganz bestimmte Stille. Wir alle tragen eine unterschiedliche Stille in uns. Ihr Mann, junge Frau – schweigt er nicht auf die eine Weise, wenn er glücklich ist und auf eine andere, wenn er wütend auf sie ist? Ihre Ohren können sogar zwischen den verschiedenen Formen des Nichts unterscheiden.«
Es passte ihr nicht, dass er »junge Frau« zu ihr sagte – sie kniff die Augen zusammen und wollte gerade etwas Unfreundliches erwidern, aber ihr Mann kam ihr zuvor, was Alinger erlaubte, sich von ihr abzuwenden. Ihr Mann war zu einem Gefäß hinübergeschlendert, das auf einem Tisch an der Wand neben einem dunklen zweisitzigen Sofa stand.
»Wie fangen Sie so einen Atemzug denn ein?«
»Mit einem Aspirator. Eine kleine Pumpe, die den Atem einer Person in einen Vakuumbehälter saugt. Ich habe ihn immer in der Arzttasche mit dabei. Für alle Fälle. Ich habe ihn selbst entwickelt, obwohl es ein vergleichbares Gerät bereits seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gibt.«
»Hier steht ›Poe‹«, sagte der Vater und deutete auf eine elfenbeinfarbene Karte, die vor einem Glas auf dem Tisch stand.
»Ja«, sagte Alinger und hüstelte verlegen. »Letzte Atemzüge werden gesammelt, seit die technischen Möglichkeiten das erlauben. Ich muss zugeben, dass ich dafür zwölftausend Dollar bezahlt habe. Er wurde mir vom Urenkel des Arztes angeboten, der ihn hat sterben sehen.«
Die Frau fing wieder an zu lachen.
»Das hört sich vielleicht nach einem Haufen Geld an«, fuhr Alinger geduldig fort, »aber Sie können mir glauben, es war noch günstig. Scrimm hat neulich in Paris das Dreifache für den letzten Atemzug von Enrico Caruso bezahlt.«
Der Vater betastete das Mortoskop, das mit dem Gefäß, auf dessen Schild »Poe« stand, verbunden war.
»Manchmal ist so eine Stille voller Gefühle«, sagte Alinger. »Man kann förmlich spüren, dass sie etwas zum Ausdruck bringen möchten. Viele, die Poes letztem Atemzug lauschen, erahnen nach einer Weile ein letztes Wort, das nicht ausgesprochen wird, der Ausdruck einer ganz bestimmten Sehnsucht. Hören Sie selbst, vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich.«
Der Vater beugte sich vor und setzte die Ohrbügel auf.
»Das ist doch lächerlich«, sagte die Frau.
Der Vater lauschte aufmerksam. Sein Sohn schmiegte sich an ihn und drückte sich fest an sein Bein.
»Kann ich auch mal, Dad?«, sagte der Junge. »Darf ich auch mal hören?«
»Pst«, sagte der Vater.
Alle schwiegen, mit Ausnahme der Frau, die gänzlich irritiert vor sich hin flüsterte.
»Whiskey«, hauchte der Vater, fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Drehen Sie die Karte um, auf der sein Name steht«, sagte Alinger.
Der Vater drehte die elfenbeinfarbene Karte um. Auf einer Seite stand POE, auf der anderen WHISKEY.
Mit ernster Miene setzte er die Ohrbügel ab und senkte den Blick voller Respekt auf das Glas.
»Natürlich, der Alkoholismus. Armer Kerl. Wissen Sie – in der sechsten Klasse habe ich den ›Raben‹
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