Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
Zug in Westfield anhielt. Der Junge verzog sich auf die andere Seite des Waggons, schlang die Arme um die hochgezogenen Knie und schwieg. Hin und wieder fiel das graue Licht des Morgens durch einen der Schlitze in der Wand des Waggons und glitt langsam über sein Gesicht; die hasserfüllten, fiebrigen Augen blitzten. Killian schlief wieder ein.
    Als er aufwachte, war der Junge fort. Inzwischen war es hell geworden, doch es war immer noch zu früh und zu kühl, so dass Killian dampfende Atemwolken von den Lippen gerissen wurden, während er in der halb offenen Tür des Waggons stand. Mit einer Hand hielt er sich am Rahmen fest, und bald waren seine Finger vom eisigen Luftstrom gerötet und wund. Sein Hemd hatte unter der Achsel einen Riss, auch dort spürte er den beißenden Wind. Er wusste nicht, ob Westfield vor oder hinter ihnen lag, aber er hatte das Gefühl, lange geschlafen zu haben – vermutlich hatten sie es bereits passiert, und bestimmt war der Junge dort abgesprungen. Nach Westfield gab es keinen Stopp mehr bis zur Endstation in Northampton, und da wollte Killian nicht hin. Er stand in der Tür und fror. Manchmal glaubte er, er wäre mit Gage gestorben, und irrte seitdem als Gespenst umher, aber das stimmte nicht. Die Realität holte ihn immer wieder ein. So wie jetzt: Sein Nacken schmerzte, seit er aufgewacht war, und die kalte Luft drang schneidend durch die Löcher in seinem Hemd.
    Auf dem Rangierbahnhof in Lima hatte ein Bahnhofsbulle Killian und Gage in einem Schuppen entdeckt, schlafend unter ihrer Decke. Er hatte sie mit Fußtritten geweckt und aufgefordert zu verschwinden, und als sie nicht schnell genug aufgestanden waren, hatte er Gage seinen Schlagstock auf den Hinterkopf gedroschen.
    In den darauffolgenden Tagen sagte Gage morgens nach dem Aufwachen regelmäßig zu Killian, dass er alles doppelt sähe. Gage fand das witzig. Er drehte den Kopf hin und her und lachte über die vervielfachte Welt; er musste blinzeln und sich die Augen reiben, damit er wieder klar sehen konnte. Dann, etwa vier Tage nach dem Vorfall in Lima, fiel er immer öfter hin. Sie gingen nebeneinander her, und plötzlich bemerkte Killian, dass er allein war. Er blickte sich um, und sah Gage mit wächsernem, verängstigtem Gesicht ein Stück hinter sich auf dem Boden sitzen. Mitten im Nirgendwo legten sie eine Pause ein, ruhten sich für den Rest des Tages aus, und das war ein Fehler. Sie hätten gleich nach einem Arzt suchen sollen, das wusste Killian jetzt. Am nächsten Morgen war Gage tot – die Augen weit aufgerissen, als hätte ihn etwas überrascht, lag er neben dem Wasserlauf.
    Später hörte Killian die Leute an den Lagerfeuern über einen Bahnhofspolizisten namens Lima Slim reden. Die Beschreibung passte auf den Mann, der Gage geschlagen hatte. Slim hatte offenbar auch schon öfter auf Rumtreiber geschossen, und einmal hatte er ein paar Männer mit vorgehaltener Waffe gezwungen, von einem Zug zu springen, der achtzig Meilen fuhr. Slim war berühmt für seine Taten – jedenfalls unter Hobos.
    Auf dem Bahnhof von Northampton gab es einen Bullen namens Arnold Choke, von dem behauptet wurde, er sei genauso übel wie Lima Slim, und daher wollte Killian auch nicht dorthin. Nach einiger Zeit, in der er in der halb offenen Tür stand, merkte er, dass der Zug langsamer wurde. Allerdings konnte er keine Station erkennen, vielleicht näherten sie sich ja einer Weiche. Dann, nachdem der Zug kurz abgebremst hatte und hin und her geruckelt war, beschleunigte er wieder. Killian sprang ab. Eigentlich war das Tempo schon zu hoch. Er kam hart mit dem linken Fuß auf, unter seinem Absatz rutschte der Schotter weg. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen Knöchel. Er fiel mit dem Gesicht voran in ein nasses Gebüsch und unterdrückte einen Schrei.
    Es war Oktober, vielleicht auch November, so genau wusste er das nicht. Der Waldboden entlang der Schienen war mit rost- und butterfarbenem Laub bedeckt. Aber noch waren nicht alle Blätter von den Bäumen gefallen, hier und da leuchtete es purpurn oder glutrot auf. Ein kalter weicher Rauch lag am Boden zwischen den Birken- und Fichtenstämmen. Killian setzte sich auf einen feuchten Baumstumpf und hielt sich vorsichtig den Knöchel, während die Sonne langsam höherstieg und der Morgennebel verdunstete. Seine Schuhe waren aufgerissen, zusammengehalten nur noch von schmutzstarrenden Streifen Sackleinen, und seine Zehen taub vor Kälte. Gage hatte bessere Schuhe besessen, doch Killian hatte

Weitere Kostenlose Bücher