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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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stiegen weiter hinauf, einer Gruppe von Wolken entgegen, deren Umrisse quecksilberfarben glühten. Mir gefiel es, wie sie sich an mich klammerte, ihr Zittern fühlte sich gut an.
    »Ich will nach Hause«, flüsterte sie.
    »Noch nicht.« Mein Hemd stand ein Stück offen, und ich konnte ihre eisige Nase an meiner Brust spüren.
    »Weißt du, ich wollte mit dir reden. Ich wollte dich heute Abend anrufen.«
    »Und wen hast du stattdessen angerufen?«
    »Niemand …« Ihr wurde klar, dass ich vor dem Fenster gelauscht hatte. »Hannah. Du weißt schon. Von der Arbeit.«
    »Lernt sie gerade auf eine Prüfung? Ich habe gehört, wie du sie gefragt hast, warum sie an einem Samstagabend lernen muss.«
    »Lass uns umkehren.«
    »Natürlich.«
    Sie vergrub das Gesicht wieder an meiner Brust. Ihre Nase strich über meine Narbe, ein silberner Halbkreis wie die Mondsichel. Ich flog noch immer nach oben, dem Mond entgegen. So weit weg schien er gar nicht mehr zu sein.
    Jetzt betastete sie die Narbe. »Unglaublich. Was für ein Glück du gehabt hast. Nur ein paar Zentimeter weiter unten, und der Ast hätte sich direkt durch dein Herz gebohrt.«
    »Wer sagt, dass er das nicht getan hat?« Ich beugte mich vor und ließ sie los.
    Sie klammerte sich strampelnd an mir fest, und ich musste ihre Finger einzeln nach hinten biegen, damit sie endlich hinunterfiel.
     
    Wenn mein Bruder und ich Superhelden spielten, wollte er immer, dass ich der Böse war. Nun, einer muss es ja sein.
    Nick hat mich gefragt, ob ich nicht mal nach Boston kommen will, damit wir was trinken gehen können. Vermutlich will er sich als großer Bruder aufspielen, mir gute Ratschläge geben – dass ich mich zusammenreißen soll, dass das Leben weitergeht. Oder er will seine Trauer mit mir teilen. Ich bin mir sicher, dass auch er trauert.
    Irgendwann werde ich das tun – nach Boston fliegen und ihn besuchen. Ihm das Cape zeigen. Vielleicht zieht er es ja über. Vielleicht will er ja aus dem fünften Stock springen.
    Oder auch nicht. Schließlich hat es das letzte Mal nicht richtig funktioniert. Kann also sein, dass sein kleiner Bruder da ein wenig nachhelfen muss.
    Und wer weiß, wenn er mit dem Cape aus dem Fenster springt – vielleicht fällt er ja nicht hinunter, sondern schwebt nach oben, in die kühle, stille Umarmung des Himmels.
    Aber eigentlich glaube ich das nicht. Als wir Kinder waren, hat es ihm nicht geholfen.
    Warum auch?
    Schließlich ist es mein Cape.

Ein letzter Atemzug
    Kurz vor zwölf kam eine Familie herein, ein Mann und eine Frau mit beider Sohn. Sie waren die ersten Besucher heute – und nach Alingers Erfahrung würden sie wahrscheinlich die Einzigen bleiben. In seinem Museum war nie viel los. Er würde also Zeit haben, sie herumzuführen.
    Er begrüßte sie vor der Garderobe. Die Frau stand noch mit einem Fuß auf den Stufen vor dem Eingang, unschlüssig, ob sie hereinkommen sollte. Über den Kopf ihres Sohnes hinweg warf sie ihrem Mann einen zweifelnden Blick zu. Der Vater runzelte die Stirn. Er hatte die Hände am Kragen seines Wollmantels und schien noch unentschlossen zu sein, ob er ihn nun ablegen sollte oder nicht. Alinger hatte das schon hundertfach erlebt. Hatten die Besucher das Museum erst einmal betreten, erblickten sie unweigerlich die Düsterkeit des dahinterliegenden Salons, der einer Leichenhalle glich, und fragten sich stets, ob sie hier überhaupt richtig waren. Wäre es nicht besser, wieder von hier zu verschwinden? Nur der kleine Junge schien sich hier wohlzufühlen. Er schlüpfte bereits aus seiner Jacke und hängte sie an einen der Haken, die für die Kinder etwas tiefer an der Wand angebracht waren.
    Bevor sie sich davonmachen konnten, räusperte sich Alinger vernehmlich. Waren sich die Besucher erst einmal bewusst, dass er sie bemerkt hatte, traute sich in der Regel niemand mehr, wieder hinauszugehen. Wenn Besorgnis und gesellschaftliche Umgangsformen miteinander im Widerstreit lagen, trugen meistens Letztere den Sieg davon.
    Alinger faltete die Hände und schenkte ihnen ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es beruhigend und großväterlich wirkte. Damit erreichte er jedoch genau das Gegenteil. Er war hager, knapp über zwei Meter groß, und seine Schläfen waren bleich und eingefallen. Mit seinen achtzig Jahren hatte er immer noch die eigenen Zähne, aber sie waren klein und grau und erweckten den unvorteilhaften Eindruck, zurechtgefeilt worden zu sein. Der Vater wich einen Schritt zurück. Die Frau streckte

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