Black Box
unwillkürlich die Hand nach ihrem Sohn aus.
»Guten Morgen. Ich bin Dr. Alinger. Bitte kommen Sie doch herein.«
»Oh – hallo«, sagte der Vater. »Wir wollten nicht stören.«
»Sie stören überhaupt nicht. Wir haben geöffnet.«
»Ach so. Gut!« Das klang nicht gerade enthusiastisch. »Was sollen wir jetzt …« Er verstummte – entweder hatte er vergessen, was er sagen wollte, wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte, oder er hatte einfach den Mut verloren.
Seine Frau sprang in die Bresche. »Uns wurde gesagt, dass es hier eine Ausstellung geben soll. So etwas wie ein Automuseum.«
Alinger lächelte erneut, das rechte Augenlid des Vaters begann hilflos zu zucken.
»Aha. Das haben Sie wohl falsch verstanden. Ein Automuseum suchen Sie also. Dies hier ist ein Atemmuseum.«
»Hä?«, sagte der Vater.
Die Mutter runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich verstehe immer noch nicht.«
»Komm schon, Mom«, sagte der Junge und befreite sich aus ihrem Griff. »Komm schon, Dad. Ich möchte mir das hier angucken. Ich will was sehen.«
»Bitte«, sagte Alinger, trat einen Schritt zurück und wies mit einer dürren, langfingrigen Hand auf den Salon. »Ich werde sie gern herumführen.«
Die Jalousien waren heruntergelassen, so dass es in dem mahagonigetäfelten Raum so dunkel war wie in einem Theater, kurz bevor der Vorhang aufging. Einzig die Vitrinen wurden von oben beleuchtet – die in die Decke eingelassenen Strahler waren so ausgerichtet, dass sie nur eine kleine Fläche erhellten. Auf Tischen und Sockeln standen blank polierte Becher aus Glas, die so hell schimmerten, dass die sie umgebende Finsternis dadurch noch schwärzer wirkte.
An jedem war eine Art Hörrohr angebracht, dessen Membran mit einem durchsichtigen Material direkt auf dem Glas festgeklebt war. Die Hörrohre schienen förmlich darauf zu warten, dass man sie in die Hand nahm und hineinlauschte. Der Junge ging voraus, gefolgt von seinen Eltern. Alinger bildete den Schluss. Vor der ersten Vitrine mit einem Glasgefäß auf einem Marmorsockel, an dem jeder vorbeikam, der den Salon betrat, blieben sie stehen.
»Da ist ja gar nichts drin«, sagte der Junge. Sein Blick schweifte durch den Raum und über die anderen verschlossenen Gefäße. »In keinem einzigen. Die sind ja alle leer.«
»Ha«, sagte sein Vater humorlos.
»Nicht ganz leer«, sagte Alinger. »Jedes Glas ist hermetisch und luftdicht versiegelt. In jedem ist der letzte Atemzug eines Menschen enthalten. Ich besitze die größte Sammlung letzter Atemzüge auf der ganzen Welt, über einhundert. In einigen dieser Behälter ist der letzte Atemzug von äußerst berühmten Leuten eingefangen.«
Jetzt fing die Frau zu lachen an; sie lachte wirklich und tat nicht nur so. Dann schlug sie die Hand vor den Mund, konnte sich aber nicht ganz beherrschen. Alinger lächelte. Seine Sammlung war schon seit Jahren der Öffentlichkeit zugänglich. Er war auf jede nur denkbare Reaktion gefasst Der Junge hingegen hatte sich mit verzücktem Blick dem Glasbecher direkt vor ihnen zugewandt. Er nahm die Ohrbügel der Vorrichtung in die Hand, die zwar wie ein Stethoskop aussah, aber keines war.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein Mortoskop«, sagte Alinger. »Ausgesprochen empfindlich. Setz es ruhig auf, wenn du möchtest, dann kannst du den letzten Atemzug von William R. Sied hören.«
»War das ein berühmter Mann?«, wollte der Junge wissen.
Alinger nickte. »Eine Zeit lang schon – wie Kriminelle eben manchmal berühmt werden. Die Öffentlichkeit ist von ihnen eben genauso fasziniert wie abgestoßen. Vor zweiundvierzig Jahren kam er auf den elektrischen Stuhl. Ich habe seine Todesurkunde selbst ausgestellt. In meinem Museum hat er einen Ehrenplatz, sein letzter Atemzug war nämlich der erste, den ich eingefangen habe.«
Inzwischen hatte die Frau ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden, obwohl sie sich noch immer ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch gegen die Lippen presste. Sie sah aus, als könnte sie den nächsten Heiterkeitsausbruch nur mit großer Anstrengung zurückhalten.
»Was hat er getan?«, fragte der Junge.
»Er hat Kinder erwürgt«, sagte Alinger. »Er hat sie in Gefrierschränken aufbewahrt, und hin und wieder hat er sie herausgeholt, um sie zu betrachten. Es gibt eben nichts, was Menschen nicht sammeln, wie ich gern sage.« Er ging in die Hocke und betrachtete gemeinsam mit dem Jungen das Glas. »Nur zu, du kannst dir das ruhig anhören.«
Der Junge nahm die
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