Black Box
vor mich hin, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Für eine Weile verlief der Pfad parallel zum See, der sich kalt und blau hinter den Tannen abzeichnete. Wenn sie schon pervers sein wollten, anstatt sich wie Eltern zu benehmen, hätten sie dann nicht ohne mich zum Big Cat Lake fahren können? Ich war so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie der Weg abbog und sich immer weiter vom Wasser entfernte. Ich blickte erst wieder auf, als ich ein Geräusch hörte, dass den Pfad entlang auf mich zukam: ein blechernes Surren und das Quietschen eines Metallrahmens unter einer Last. Unmittelbar vor mir teilte sich der Weg und führte um einen Fels herum, der in seiner Form einem zur Hälfte eingegrabenen, hochkant stehenden Sarg glich. Hinter diesem Fels lief der Weg wieder zusammen und wand sich zwischen den Tannen hindurch.
Irgendetwas beunruhigte mich, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was. Vielleicht lag es an dem Wind, der stärker geworden war, an den Zweigen, die über den Himmel peitschten. Blätter fegten um meine Füße herum, als hätten sie es plötzlich eilig, den Pfad zu verlassen. Ohne nachzudenken, kauerte ich mich hinter den Fels. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen und zog die Knie an die Brust.
Kurz darauf fuhr der Junge mit dem altertümlichen Fahrrad – der Junge aus meinem Traum – links an mir vorbei, ohne auch nur in meine Richtung zu blicken. Er hatte dasselbe Nachthemd an wie letzte Nacht. Die beiden mittelgroßen Flügel auf seinem Rücken wurden von einem weißen Geschirr zusammengehalten. Möglicherweise hatte er sie auch vorher schon getragen, und ich hatte es im Dunkeln nur nicht bemerkt. Während er auf seinem klapprigen Gefährt vorbeifuhr, warf ich einen kurzen Blick auf seine Wangen mit den Grübchen und auf seinen blonden Pagenschnitt. Seine Gesichtszüge strahlten ruhige Selbstsicherheit aus. Sein kühler Blick ging in die Ferne, als würde er etwas suchen. Ich beobachtete ihn, wie er sein Charlie-Chaplin-Rad geschickt zwischen den Steinen und Wurzeln hindurchlenkte. Dann war er hinter einer Kurve verschwunden.
Wenn ich ihn nicht zuvor in jener Nacht gesehen hätte, hätte ich vielleicht gedacht, er wäre zu einer Kostümparty unterwegs, obwohl es zu kalt war, um sich im Nachthemd im Wald herumzutreiben. Am liebsten wäre ich jetzt wieder in der Hütte gewesen, raus aus dem Wind, bei meinen Eltern in Sicherheit. Die Bäume, die um mich herum wogten und rauschten, machten mir Angst.
Nachdem ich wieder aufgestanden war, behielt ich die Richtung bei, die ich vorher eingeschlagen hatte. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass der Radfahrer nicht hinter mir her war. Ich hatte nicht den Mut, den Weg zurückzulaufen, weil ich ja wusste, dass sich der Junge irgendwo zwischen mir und der Hütte befand.
Ich hastete weiter in der Hoffnung, auf eine Straße zu stoßen oder auf eines der Sommerhäuser, die es überall am See gab – ich wollte überall sein, nur nicht im Wald. Wie sich herausstellte, war »überall« nur zehn Minuten von dem sargförmigen Fels entfernt. Es war nicht zu übersehen: Ein verwittertes Brett, auf das die Buchstaben »ÜBER-ALL« gemalt waren, war an einen Baumstamm genagelt, bei einer Lichtung im Wald, wo irgendwann einmal jemand gezeltet hatte. In einer schwarzen Feuergrube lagen ein paar verkohlte Äste. Zwischen zwei Felsen hatte jemand – Kinder vielleicht – einen Unterstand gebaut. Die Felsen waren ungefähr gleich hoch und neigten sich einander zu. Oben drüber lag eine Sperrholzplatte. Vor der Öffnung war ein Baumstamm gezogen worden und bildete eine Barriere, über die man hinüberklettern musste, wenn man hineinwollte. Man konnte sich aber auch, dem Feuer zugewandt, daraufsetzen.
Ich blieb vor den Überresten des alten Lagerfeuers stehen und versuchte, mich zu orientieren. Auf der anderen Seite des Lagerplatzes führten zwei Wege in den Wald. Ich konnte keinen großen Unterschied zwischen ihnen erkennen – beide waren schmal und verschwanden im Unterholz, und es gab keinen Hinweis, wohin sie führen mochten.
»Wohin willst du denn?«, fragte ein Mädchen links von mir mit freundlich flüsternder Stimme.
Ich zuckte zusammen, trat einen halben Schritt zurück und sah mich um. Sie beugte sich aus dem Unterstand und stützte die Hände auf einen Baumstamm. Im Schatten der Felsen hatte ich sie nicht bemerkt. Sie hatte schwarzes Haar, war etwas älter als ich,
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