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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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passte sie mir einigermaßen. Sie roch noch nach meinem Vater, nach Kaffee und dem Meerwasserduft seines Rasierwassers. Ich fand es beruhigend, ihn so nahe bei mir zu haben.
    »In ein paar Minuten verschwinden wir von hier«, sagte meine Mutter. »Sobald sich der Gutachter umgesehen hat. Komm rein, wir sind gleich fertig.«
    Ich folgte ihr ins Haus, blieb aber sofort hinter der Schwelle stehen. Mein Vater saß ohne Hemd und Schuhe auf dem Sofa. Sein Körper sah aus, als wäre er von einem Chirurgen für eine Operation vorbereitet worden. Gestrichelte Linien und Pfeile zeigten seine Leber, seine Milz und seine Eingeweide an. Mit ausdrucksloser Miene hatte er den Blick auf den Boden gerichtet.
    »Dad?«, rief ich.
    Er sah auf, und sein Blick glitt zwischen mir und meiner Mutter hin und her. Sein Gesichtsausdruck blieb leer und nichts sagend.
    »Pst«, sagte meine Mutter. »Daddy ist beschäftigt.«
    Ich hörte Absätze über die nackten Dielen klappern und wandte mich um. Der Gutachter kam aus dem Elternschlafzimmer. Die Gutachterin, genau genommen, zu meiner Überraschung handelte es sich nämlich um eine Frau in mittleren Jahren. Sie trug eine Tweedjacke, und in ihrem welligen blonden Haar zeigten sich erste graue Strähnen. Sie hatte strenge, majestätische Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen und ausdrucksstarken Augenbrauen des englischen Adels.
    »Haben Sie etwas gefunden, was Ihnen gefällt?«, fragte meine Mutter.
    »Sie haben da ein paar wundervolle Stücke«, sagte die Gutachterin. Ihr Blick glitt zu den nackten Schultern meines Vaters hinüber.
    »Nun denn«, sagte meine Mutter. »Kümmern Sie sich nicht um mich.« Sie drückte meinen Arm, ging um mich herum und flüsterte: »Halt die Stellung, Kleiner. Ich bin gleich wieder da.«
    Meine Mutter bedachte die Gutachterin mit einem knappen, höflichen Lächeln, bevor sie im Schlafzimmer verschwand und uns drei allein ließ.
    »Es tut mir leid, dass Upton gestorben ist«, sagte die Gutachterin. »Vermisst du ihn?«
    Die Frage kam so unerwartet und direkt, dass ich leicht erschrak. Vielleicht lag es aber auch an ihrem Tonfall, der nicht im Mindesten mitfühlend klang, sondern eher unangemessen neugierig.
    »Irgendwie schon. Aber wir kannten uns nicht so gut«, sagte ich. »Ich glaube, dass er ein ziemlich schönes Leben hatte.«
    »Natürlich hatte er das«, sagte sie.
    »Ich wäre glücklich, wenn die Dinge für mich nur halb so gut liefen.«
    »Natürlich werden sie das«, sagte sie, legte meinem Vater die Hand in den Nacken und strich liebevoll darüber.
    Es war eine so beiläufig intime Geste, das mir bei dem Anblick übel wurde. Ich wandte mich ab – ich konnte nicht anders – und schaute zufällig in den Spiegel auf der Kommode. Die Vorhänge waren ein Stück aufgezogen, und im Spiegelbild konnte ich eine Spielkartenfrau hinter meinem Vater stehen sehen, die Pik-Dame, ihre tiefschwarzen Augen hochmütig und distanziert. Ihr schwarzes Kleid war ihr auf den Körper gemalt. Erschrocken riss ich mich vom Spiegelbild los und sah wieder zum Sofa hinüber. Mein Vater lächelte verträumt und schmiegte sich an die Hand, mit der er jetzt massiert wurde. Die Gutachterin musterte mich unter halb gesenkten Augenlidern.
    »Das ist nicht dein Gesicht«, sagte sie. »So ein Gesicht hat niemand. Ein Gesicht aus Eis. Was hast du zu verbergen?«
    Mein Vater versteifte sich, und sein Lächeln verschwand. Er setzte sich auf und befreite sich aus ihrem Griff.
    »Sie haben jetzt alles gesehen«, sagte er zu der Frau, die noch immer hinter ihm stand. »Was davon wollen Sie haben?«
    »Nun, für den Anfang alles in diesem Zimmer«, sagte sie und legte ihm wieder sanft die Hand auf die Schulter. Einen Augenblick lang spielte sie mit seinen Locken. »Ich kann doch alles haben, oder?«
    Meine Mutter kam mit zwei schweren Koffern aus dem Schlafzimmer. Als sie sah, dass die Gutachterin die Hand auf der Schulter meines Vaters liegen hatte, stieß sie ein überraschtes, leises Lachen aus – eigentlich nur ein »Hä«, und genau das schien es auch zu bedeuten. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und marschierte mit den Koffern zur Tür.
    »Hier steht alles zum Verkauf«, sagte mein Vater. »Wir wollen gern ins Geschäft kommen.«
    »Das möchte jeder«, sagte die Gutachterin.
    Meine Mutter stellte einen der Koffer vor mir ab und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, dass ich ihn nehmen sollte. Ich folgte ihr auf die Veranda hinaus und sah mich dann um. Die Gutachterin hatte sich

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