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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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weiter Ferne und stellte mich taub. Und wenn tatsächlich jemand auf mich zukam, um mich zu fragen, was denn meiner Meinung nach geschehen ist – das war unvermeidlich, schließlich wussten alle, dass wir Compañeros waren –, machte ich ein ausdrucksloses Gesicht und zuckte mit den Achseln. »Soll mich das irgendwie kümmern?«, sagte ich dann.
    Später hab ich mir richtig angewöhnt, nicht mehr an Eddy zu denken. Wenn mich zufällig etwas an ihn erinnerte – wenn ich einem Jungen begegnete, der ihm ähnlich sah, oder in der Zeitung etwas über einen vermissten Schüler las –, dachte ich, ohne dass mir das überhaupt bewusst war, automatisch an etwas anderes.
    Und jetzt wird mein kleiner Bruder Morris vermisst, seit drei Wochen schon, und da denke ich schon öfter an Eddy Prior. Sosehr ich mich auch anstrenge, er will mir einfach nicht aus dem Sinn. Das Bedürfnis, mit jemandem über das zu sprechen, was ich weiß, ist fast zu viel für mich. Aber die Polizei geht das nichts an. Ihr könnt mir glauben, all das würde denen nicht weiterhelfen, und mir würde es auf jeden Fall schaden. Ich kann ihnen sowieso nicht sagen, wo sie nach Edward Prior suchen sollen, genauso wenig wie ich ihnen sagen kann, wo sie nach Morris suchen sollen. Was ich nicht weiß, kann ich auch niemandem verraten! Aber wenn ich diese Geschichte einem Polizeibeamten erzählen würde, kämen auf mich und manche Leute vermutlich einige ziemlich unangenehme Fragen zu – auf Eddys Mutter zum Beispiel, die noch lebt und zum dritten Mal verheiratet ist.
    Und vielleicht würde ich letztlich dort landen, wo mein Bruder die letzten beiden Jahre seines Lebens verbracht hat: im Wellbrook Progressive Mental Health Center. Mein Bruder war freiwillig dort, aber im Wellbrook gibt es auch einen Flügel, der für Leute reserviert ist, die gerichtlich in die Klapse eingewiesen werden. Morris hat an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Klinik teilgenommen; vier Tage die Woche hat er sich mit einem Wischmopp vergnügt, und jeden Freitagmorgen hat er dem sogenannten Gouverneursflügel einen Besuch abgestattet, um die Scheiße von den Wänden zu waschen. Und das Blut.
    Habe ich von Morris gerade in der Vergangenheitsform gesprochen? Sieht so aus. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass irgendwann das Telefon klingelt, und Betty Millhauser vom Wellbrook ist dran und erzählt mir mit atemloser, sich überschlagender Stimme, dass sie ihn in irgendeiner Obdachlosenunterkunft gefunden haben und jetzt nach Hause bringen. Ich glaube auch nicht mehr, dass mich jemand anruft, um mir mitzuteilen, dass sie ihn gerade aus dem Charles gefischt haben. Ich rechne einfach nicht mehr damit, dass sich überhaupt irgendjemand meldet, außer vielleicht, um mir zu erklären: Wir wissen nichts. Was eine gute Grabinschrift für Morris abgeben würde. Und vielleicht sollte ich mir eingestehen, dass ich das hier schreibe, weil ich einfach nicht anders kann, und nicht, um es irgendjemandem zu zeigen. Diese Geschichte darf ich wirklich nur einem leeren Blatt Papier erzählen. Alles andere wäre viel zu gefährlich.
     
    Mein kleiner Bruder hat erst mit vier Jahren angefangen zu sprechen. Viele Leute haben gedacht, er wäre zurückgeblieben, und viele Leute in der Gegend meiner alten Heimatstadt Pallow glauben heute noch, dass er geistig zurückgeblieben oder autistisch war. Sicher, als ich noch ein Kind war, habe ich selbst manchmal gedacht, er sei zurückgeblieben, obwohl mir meine Eltern versicherten, dass das nicht stimmte.
    Mit elf haben sie bei ihm kindliche Schizophrenie diagnostiziert. Weitere Diagnosen folgten: Depression, zwanghafte Verhaltensstörung, Persönlichkeitsstörung, Asperger-Syndrom. Ich weiß nicht, ob einer dieser Begriffe auch nur ansatzweise beschreibt, was für ein Mensch er war und womit er zu kämpfen hatte. Ich weiß nur, dass er nie viele Worte gemacht hat, auch als er endlich lernte, sich auszudrücken. Er war immer zu klein für sein Alter, ein feingliedriger Junge mit schmalen Händen, langen Fingern und einem elfenhaften Gesicht. Er war immer sonderbar emotionslos, hat seine Gefühle verdrängt – sein Gesicht blieb meistens völlig regungslos. Er schien nie zu blinzeln. Manchmal hat mich mein Bruder an eine dieser spitz zulaufenden Trompetenmuscheln erinnert, die auf der Innenseite rosafarben leuchten und sich spiralförmig nach innen winden, als hätten sie dort etwas zu verbergen. So eine Muschel kann man sich ans Ohr halten und so tun, als lauschte

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