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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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wurde er vorübergehend berühmt, zumindest in Pallow, weil der Boston Chronicle einen kurzen Beitrag über ihn brachte. In der Sporthalle der Schule für entwicklungsverzögerte Kinder hatte Morris über achtzehntausend Dominosteine verbaut. Er hatte sie so angeordnet, dass sie einen riesigen Greif ergaben, der gegen eine Phalanx von Rittern kämpfte. Channel Five filmte ihn, wie er dieses Gebilde mit lautem Getöse zum Einsturz brachte. Als die Dominosteine umfielen, sah es so aus, als würden Pfeile durch die Luft fliegen und der Greif sich auf einen der Ritter stürzen; drei Reihen blutroter Steine fielen um, als würde sich eine klaffende Wunde öffnen. Eine Woche lang litt ich unter Eifersuchtsanfällen und verließ jedes Mal das Zimmer, wenn er hereinkam. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass ihm so viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Mein Groll ließ ihn jedoch ebenso kalt wie seine Berühmtheit. Morris war das alles völlig gleichgültig. Mein Zorn verrauchte, als mir klar wurde, dass ich ebenso gut in einen Brunnenschacht hätte reinbrüllen können, und nach einer Weile verlor auch der Rest der Welt wieder das Interesse an Morris.
    In meinem ersten Jahr an der Highschool war ich dann oft mit Eddy Prior zusammen. Morris baute weiterhin Festungen – Vater brachte ihm Pappkartons aus dem Kaufhaus mit, in dem er als Zusteller arbeitete. Morris’ Pappkartonkonstruktionen unterschieden sich von Anfang an von den Sachen, die er aus Dominosteinen oder Pappbechern errichtet hatte. Während seine früheren Projekte einen klaren Anfang und ein eindeutiges Ende gehabt hatten, schienen seine Bauwerke aus Pappkarton eigentlich nie fertig zu werden. Ein Projekt ging in das andere über, ein Bunker wurde zu einem Schloss, und daraus wurde wiederum eine Reihe von Katakomben. Diese Pappwelten bemalte er von außen, und innen richtete er sie ein, indem er Teppiche verlegte und Fenster und Türen, die man auf- und zuklappen konnte, in die Wände schnitt. Irgendwann nahm er dann, ohne jede Vorwarnung, große Teile der Konstruktionen wieder auseinander und errichtete das ganze Bauwerk neu, wobei er völlig anderen architektonischen Gesichtspunkten folgte.
    Die Bastelei mit den Pappbechern und Legosteinen hatte ihn immer beruhigt. Wenn er dagegen mit Pappkartons baute, wurde er nervös und unzufrieden. Was er gerade baute, war immer ein paar Kartons von seiner Vollendung entfernt, und solange er das nicht hinbekam, übte das hochaufragende Ding, das er im Keller errichtete, einen sonderbaren, unguten Einfluss auf ihn aus.
    Ich weiß noch, wie ich einmal an einem Sonntagnachmittag nach Hause kam und in meinen Schneestiefeln durch die Küche zum Kühlschrank hinüberstapfte. Dabei warf ich einen Blick durch die offene Kellertür, die Treppe hinunter – und erstarrte. Mir stockte der Atem. Morris saß in gekrümmter Haltung auf der untersten Stufe, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, das Gesicht kränklich, unnatürlich weiß und zu einer Grimasse verzogen. Eine Hand hielt er gegen die Stirn gepresst, als ob er dort geschlagen worden wäre. Wie ich die Treppe zu ihm hinunterstieg, erschrak ich allerdings am meisten über Morris’ schweißnasse Wangen. Sein weißes T-Shirt war völlig durchgeschwitzt und hatte vorn einen v-förmigen Fleck, obwohl es im Keller fast zu kühl war, um sich dort länger aufzuhalten. Nur noch drei Stufen von ihm entfernt wollte ich gerade seinen Namen rufen, als er unvermittelt die Augen aufschlug. Kurz darauf entspannten sich seine Gesichtszüge, und er sah nicht mehr so aus, als litte er entsetzliche Schmerzen.
    »Was ist los?«, fragte ich. »Geht es dir nicht gut?«
    »Doch«, sagte er tonlos. »Ich war nur für eine Weile … woanders.«
    »Hast die Zeit vergessen, was?«
    Das schien er nicht zu verstehen. Seine Augen wurden schmal, sein Blick durchdringend. Gedankenverloren starrte er seine Festung an. Damals bestand sie aus ungefähr zwanzig Kisten, die er zu einem großen Quadrat angeordnet hatte. Etwa die Hälfte der Kisten hatte er leuchtend gelb angemalt. In die Seiten waren runde Bullaugen geschnitten. Über die Bullaugen hatte er Klarsichtfolie geklebt und diese mit einem Föhn bearbeitet, so dass die »Fensterscheiben« straff und glatt waren. Dieser Teil der Festung war das Überbleibsel eines gelben Unterseeboots, an dem sich Morris zuvor versucht hatte. Ein Periskop – eine Posterversandrolle – ragte oben aus einem besonders großen Karton. Die restlichen Kisten waren in

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