Black Box
man den Tiefen des grenzenlosen tosenden Ozeans – dabei ist es nur eine akustische Täuschung. Das Geräusch, das man da hört, ist der leise, brausende Donner des Nichts. Wie auch immer, die Ärzte hatten ihre Theorien über ihn, und als ich vierzehn war, war das eben meine Theorie.
Weil er schnell schmerzhafte Ohrenentzündungen bekam, durfte Morris im Winter nicht ins Freie – und der Winter fing für meine Mutter mit dem Finale der Baseballsaison an und war zu Ende, wenn die nächste wieder losging. Jeder, der selbst einmal kleine Kinder hatte, kann ein Lied davon singen, wie schwer es ist, sie für längere Zeit beschäftigt zu halten, wenn man sie nicht einfach rausschicken kann. Ich habe einen Sohn, der ist inzwischen zwölf Jahre alt und lebt bei meiner Ex in Boca Raton. Aber bis er sieben war, haben wir als Familie zusammengelebt, und ich weiß noch gut, wie anstrengend ein kalter, regnerischer Tag sein konnte, wenn wir alle zu Hause festsaßen. Für meinen Bruder war jeder Tag ein kalter, regnerischer Tag, aber im Unterschied zu anderen Kindern war es nicht schwer, ihn zu beschäftigen. In der Regel beschäftigte er sich selbst – kaum von der Schule nach Hause gekommen, verschwand er auch schon im Keller und arbeitete den restlichen Nachmittag hindurch mit beharrlichem Fleiß an einem seiner gewaltigen, weiträumigen, ziemlich komplizierten und völlig sinnlosen Bauwerke.
Seine erste Begeisterung galt Türmen und weitläufigen Tempelanlagen, die er aus Pappbechern errichtete. Ich kann mich, glaube ich, sogar noch an das erste Mal erinnern, als er etwas aus Pappbechern bastelte. Es war Abend, und wir alle – meine Eltern, Morris und ich – hatten uns im Fernsehzimmer versammelt, um M*A*S*H anzuschauen, eines unserer wenigen Familienrituale. Als die Folge jedoch bei der zweiten Werbepause angelangt war, haben wir den Eskapaden von Alan Alda und seinen Kumpanen keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt, sondern nur noch meinen Bruder angestarrt.
Mein Vater hockte neben ihm auf dem Boden. Gut möglich, dass er ihm anfangs noch beim Bauen geholfen hat. Mein Vater war selbst ein bisschen autistisch veranlagt, ein schüchterner, etwas unbeholfener Mensch, der an den Wochenenden nicht aus seinem Schlafanzug herauskam und mit Ausnahme meiner Mutter praktisch keinen gesellschaftlichen Umgang pflegte. Ihm war nie anzumerken, ob er nun von Morris enttäuscht war oder nicht, und meistens wirkte er am glücklichsten, wenn er sich neben meinem Bruder ausgestreckt hatte, um mit ihm sonnendurchflutete Welten voller Strichmännchen auf Bastelpapier zu zeichnen. Dieses Mal hatte er sich jedoch zurückgehalten und Morris allein werkeln lassen – er war ebenso gespannt wie wir, was dabei herauskommen würde. Morris baute und stapelte, seine langen schmalen Finger glitten hierhin und dorthin und stellten die Pappbecher so schnell an ihren Platz, dass es fast so aussah wie ein Zaubertrick oder wie die Arbeit eines Fließbandroboters – ohne zu zögern, scheinbar ohne nachzudenken und ohne jemals aus Versehen einen Becher umzustoßen. Manchmal sah er nicht einmal hin, was seine Hände da taten, sondern stierte in den Karton mit den Pappbechern, als wollte er nachschauen, wie viele noch übrig waren. Die Türme wuchsen immer höher hinauf, ein Becher stapelte sich so schnell auf den anderen, dass ich zuweilen den Atem anhielt, weil ich nicht glauben konnte, was ich da sah.
Ein zweiter Karton Pappbecher wurde geöffnet und aufgebraucht. Als er schließlich fertig war – Vater konnte keine weiteren Becher mehr finden –, war der Turm genauso groß wie Morris und von einem Verteidigungswall mit einem offenen Tor umgeben. Die Abstände zwischen den Bechern sahen so aus, als wären in den Türmen Schießscharten, und oben hatten die Mauern und der Turm kleine Zinnen. Wir waren alle ein wenig erschrocken – schließlich hatten wir ja mit angesehen, in welchem Tempo und mit was für einer Selbstsicherheit Morris das alles errichtet hatte –, obwohl es sich eigentlich um ein nicht weiter ungewöhnliches Bauwerk handelte. Jeder andere Fünfjährige hätte das auch hinbekommen. Bemerkenswert daran war nur, dass sich dahinter ein noch größerer Ehrgeiz zu verbergen schien. Wir hatten das Gefühl, Morris hätte mühelos weiterbauen, weitere Wachttürme, Nebengebäude und ganze Pappbecherdörfer errichten können. Als die Becher aufgebraucht waren, sah er sich um und lachte – was ich noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Ein hohes
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