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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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zwei zusammengefaltete Blätter aus »Visions of American History« heraus. Ich hob sie auf und starrte sie an. Erst wusste ich nichts damit anzufangen – zwei hektografierte Seiten, auf denen mit Schreibmaschine geschriebene Fragen standen, mit weißen Zwischenräumen für die Antworten. Als mir dann jedoch klar wurde, was ich da anglotzte, hätte ich beinahe den schlimmsten Fluch ausgestoßen, den ich kannte, und meine Mutter stand nur wenige Meter neben mir – ein Fehlverhalten, mit dem ich mir auf jeden Fall eine längere Standpauke und ein paar unangenehme Fragen eingehandelt hätte. Ich hielt einen Test in den Händen, der letzten Freitag ausgeteilt worden war und den ich zu Hause hätte bearbeiten sollen. Er sollte an diesem Vormittag abgegeben werden.
    Im Geschichtsunterricht war ich letzte Woche etwas weggetreten gewesen. Da war dieses Mädchen, ein ziemlicher Punk, das meistens einen zerrissenen Jeansrock mit grellroten Netzstrümpfen trug. Sie saß neben mir. Oft langweilte sie sich, und dann ließ sie die Beine auf- und zuklappen, und wenn ich mich vorbeugte, konnte ich aus den Augenwinkeln einen Blick auf ihren erstaunlich weißen Schlüpfer erhaschen. Falls wir im Unterricht auf diesen Test hingewiesen worden waren, hatte ich jedenfalls nichts davon mitbekommen.
    Meine Mutter brachte mich zur Schule, und ich schlurfte über den hinteren Hof. Mein Magen krampfte sich zusammen. Amerikanische Geschichte. In der zweiten Stunde. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich hatte nicht einmal die Kapitel gelesen, die wir zuletzt aufgehabt hatten. Ich wusste, dass ich mich irgendwo hinhocken sollte, um wenigstens einen Teil davon auszufüllen – rasch die Seiten überfliegen, ein paar halbherzige Antworten hinkritzeln. Aber ich konnte mich nicht hinsetzen, ich konnte es nicht einmal ertragen, die Hausaufgaben anzusehen. Eine lähmende Hilflosigkeit hatte sich meiner bemächtigt, das schreckliche, ekelhafte Gefühl, dass es keinen Ausweg gab, dass mein Schicksal besiegelt war.
    Am Übergang zwischen dem asphaltierten Hof und den gefrorenen, festgetretenen Feldern dahinter lagen eine Reihe massiver Holzpfosten, die früher einen Zaun gehalten hatten. Aber den gab es schon lange nicht mehr. Ein Junge namens Cameron Hodges, den ich aus dem Geschichtsunterricht kannte, saß, umgeben von ein paar Freunden, auf einem dieser Pfosten. Cameron hatte helles Haar und trug eine große Brille mit rundem Gestell, die neugierigen, stets feuchten blauen Augen dahinter weit aufgerissen. Er würde seinen Abschluss mit Auszeichnung machen und gehörte zur Schülervertretung. Trotzdem war er beliebt – es mochte ihn einfach jeder, ohne dass er sich groß darum bemühen musste. Das lag daran, dass er nicht viel Wind um sein Wissen machte, dass er nicht gleich wild mit der Hand in der Luft herumwedelte, wenn er die Antwort auf eine besonders knifflige Frage wusste. Aber es war nicht nur das – irgendwie wirkte er immer relativ vernünftig, verfügte über eine gesunde Mischung aus Gelassenheit und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und machte insgesamt einen viel erwachseneren und erfahreneren Eindruck als die meisten anderen.
    Ich mochte ihn und hatte bei den Schülerwahlen sogar für ihn gestimmt, aber wir hatten nie groß etwas miteinander zu tun gehabt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, mit ihm befreundet zu sein – damit meine ich, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemand wie er könnte auch nur einen Gedanken auf mich verschwenden. Ich ließ so schnell niemanden an mich ran, war eher verschlossen, misstraute den Beweggründen anderer und verhielt mich oft grundlos feindselig. Wenn irgendwelche Leute an mir vorbeispazierten und lachten, warf ich ihnen immer einen bösen Blick zu, nur für den Fall, dass sie sich über mich lustig machten.
    Als ich an ihm vorbeischlenderte, bemerkte ich, dass er seinen Test in der Hand hielt. Seine Freunde verglichen ihre Antworten mit seiner: »Einführung der Entkörnungsmaschinen im Süden, richtig, das steht da auch.« Und dann, als ich direkt hinter Cameron stand, riss ich ihm, ohne weiter nachzudenken, die Blätter aus der Hand.
    »Hey«, rief Cameron und streckte die Hand nach ihnen aus.
    »Ich muss das kurz mal abschreiben«, sagte ich mit heiserer Stimme und wandte mich um, damit er mir die Blätter nicht wieder wegnehmen konnte. Ich war rot im Gesicht und atmete schwer. Was ich gerade getan hatte, widerte mich an, aber was blieb mir anderes übrig? »Ich geb’s dir gleich in

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