Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
Geschichte zurück.«
    Cameron rutschte von dem Pfosten herunter und kam auf mich zu, die Hände erhoben, sein Blick bestürzt und flehentlich, was von der Brille noch verstärkt wurde. »Bitte nicht, Nolan!« Es überraschte mich, dass er meinen Namen wusste – warum, weiß ich nicht; bisher hatte ich keine Ahnung gehabt, ob er mich überhaupt kannte. »Wenn wir beide dieselben Antworten haben, merkt Mr. Sarducchi, dass du von mir abgeschrieben hast. Dann bekommen wir beide eine Sechs.« Seine Stimme zitterte leicht.
    »Heul nicht rum«, erwiderte ich. Es klang schroffer, als ich beabsichtigt hatte, eher wie eine höhnische Bemerkung – ich hatte wirklich Schiss, er würde gleich in Tränen ausbrechen. Die anderen Jungs lachten.
    »Genau«, rief Eddy Prior, der plötzlich zwischen mir und Cameron aufgetaucht war. Er drückte Cameron die Hand gegen die Stirn und schubste ihn. Cameron landete ziemlich unsanft auf dem Hintern und schrie laut auf. Die Brille rutschte ihm von der Nase, schlitterte auf eine vereiste Pfütze. »Spiel nicht die Schwuchtel! Das merkt schon keiner. Du kriegst es ja gleich wieder.«
    Dann legte Eddy mir einen Arm um die Schulter, und wir schlenderten gemeinsam davon. Er redete mit hochgezogenem Mundwinkel, als wären wir zwei Knackis, die sich im Gefängnishof darüber unterhielten, wie sie demnächst ausbrechen wollten.
    »Lerner«, sagte er zu mir. Er sprach die Leute immer mit ihrem Nachnamen an. »Schieb mir das mal rüber, wenn du damit durch bist. Wegen unvorhersehbarer Umstände, auf die ich keinen Einfluss hatte, musste ich gestern Abend von zu Hause weg. Genau genommen lag’s am Freund meiner Mutter, der eine großmäulige Fotze ist. Also hab ich halt mit meinem Vetter bis in die Puppen Tischfußball gespielt. Tja, und deshalb konnte ich leider nicht mehr als die ersten beiden Fragen beantworten.«
    Obwohl Eddy Prior nur Dreien und Vieren bekam – vom Werkunterricht mal abgesehen – und praktisch jede Woche nachsitzen musste, war er auf seine Art ebenso charismatisch wie Cameron Hodges. Nichts schien ihn aus der Fassung zu bringen, ein Verhalten, das die anderen Schüler mächtig beeindruckte. Außerdem war er stets gut gelaunt und für jeden Spaß zu haben, so dass man nie lange auf ihn sauer sein konnte. Wenn ihn ein Lehrer aufforderte, das Klassenzimmer zu verlassen, weil er wieder einmal eine dumme Bemerkung gemacht hatte, zuckte Eddy nur mit den Achseln, als ginge diese verrückte Welt einfach über sein Verständnis, packte seelenruhig seine Bücher ein und trottete hinaus – allerdings nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und den anderen Schülern einen letzten verschmitzten Blick zuzuwerfen, was stets eine Kettenreaktion leidlich unterdrückten Gekichers auslöste. Am nächsten Morgen konnte man dann denselben Lehrer, der ihn zuvor des Unterrichts verwiesen hatte, auf dem Lehrerparkplatz beobachten, wie er und Eddy einander einen Football zuwarfen und sich irgendeinen Blödsinn über die Celtics erzählten.
    Eddy Prior und Cameron Hodges wussten ziemlich genau, was sie von sich selbst zu halten hatten – das war allerdings das Einzige, was die beiden gemeinsam hatten. Und daran lag es wohl auch, dass sie so beliebt waren. Eddy wusste, wer er war. Er war mit sich im Reinen. Seine Schwächen raubten ihm nicht den Schlaf. Jedes Wort, das er von sich gab, war Ausdruck seiner Persönlichkeit, ohne jegliche Hintergedanken. Ich dagegen hatte kein klares Bild von mir selbst, sondern war immer darauf bedacht, herauszufinden, was andere von mir hielten. Dabei hoffte ich – und fürchtete gleichermaßen –, dass sie mir deutlich zu verstehen geben würden, was sie sahen, wenn sie mich anschauten.
    In jenem Augenblick, als Eddy und ich uns von Cameron abwandten, war meine Welt in ihren Grundfesten erschüttert – etwas, das in der Pubertät häufig vorkommt. Ich hatte gerade Cameron seinen Text aus der Hand gerissen und suchte nun panisch nach einem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation, in die ich mich da gebracht hatte. Außerdem war ich entsetzt, dass ich zu so etwas überhaupt in der Lage war. Andererseits war ich aber auch selig, Arm in Arm mit Eddy Prior über den Hof zu schlendern, als wären wir alte Freunde, die morgens um zwei aus der White Barrell Tavern kamen. Ich war bestürzt und begeistert zugleich, dass er den Freund seiner Mutter ganz beiläufig als großmäulige Fotze bezeichnete. Für mich war das ebenso witzig wie alle Späße, die Steve Martin jemals

Weitere Kostenlose Bücher