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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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herumbastelte. Eddy konnte sich noch daran erinnern, wie Morris im Fernsehen seinen Domino-Greif zum Einsturz gebracht hatte, obwohl das bereits ein paar Jahre her war. Auch wenn er das nie zugegeben hätte, war er, glaube ich, völlig begeistert, dass er jemanden mit einer Inselbegabung kannte. Er hätte es jedoch ebenso toll gefunden, wenn mein Bruder doppelt amputiert oder ein Zwerg gewesen wäre. Eddy wollte einfach ein wenig Freakshow in seinem Leben. Aber letztlich bekommen die Menschen immer mehr, als sie sich wünschen – und dann werden sie nicht damit fertig, nicht wahr?
    Während einem seiner ersten Besuche bei uns gingen wir in den Keller, um die neueste Variante von Morris’ Festungsbauprojekt zu bewundern. Morris hatte rund vierzig Kartons zu einem Netzwerk in Gestalt eines riesigen Kraken zusammengepappt. Acht lange Durchgänge schlängelten sich zu einer übergroßen Kiste in der Mitte, in der sich einmal ein Breitwandbildfernseher befunden hatte. Es wäre durchaus passend gewesen, das alles wie einen bedrohlich dreinblickenden Kraken anzumalen. Ein paar der dicken, rüsselartigen »Arme« waren auch hellgrün angestrichen, mit roten Kreisen darauf, die die Saugnäpfe darstellen sollten. Andere Arme jedoch waren von früheren Festungsbauten übrig geblieben – so bestand ein Arm aus den Resten eines gelben Unterseeboots, ein anderer hatte einmal zu einer weiß angemalten Rakete gehört, deren Seitenruder mit Abziehbildern der amerikanischen Flagge beklebt waren. Die Riesenkiste in der Mitte des Kraken wiederum war vollständig unbemalt, dafür jedoch mit Hühnerdraht verkleidet, der so zurechtgebogen war, dass er wie ein Paar schiefe Hörner aussah. Der ganze Rest der Festung wirkte eher wie der selbst gebastelte Spielplatz eines Kindes – es sah überwältigend aus, aber war eben doch nur ein Spielplatz, etwas, das Daddy zusammen mit seinem Jüngsten gebaut haben könnte. Und es war dieses Detail, diese unerklärlichen, unfassbaren Hörner aus Hühnerdraht, an denen man erkannte, dass es sich um das Werk von jemandem handelte, der den Verstand verloren hatte.
    »Rattenscharf«, sagte Eddy, als wir unten angekommen waren. Das Funkeln in seinen Augen ließ jedoch etwas nach, und es war ihm anzumerken, dass er nicht ganz so beeindruckt war, dass er sich insgeheim mehr erhofft hatte.
    In dem Moment hasste ich ihn dafür, dass er so enttäuscht war – keine Ahnung, warum. Wenn er wollte, dass mein Bruder ein hochbegabter Narr war, wollte ich das auch. Ich ging vor einem der Eingänge auf alle viere und sagte: »Du musst schon reinkriechen, um das auf dich wirken zu lassen. Die sind von innen immer viel cooler als von außen.«
    Und ohne mich noch einmal umzublicken, schob ich mich hinein.
    Mit vierzehn war ich ziemlich stämmig, unbeholfen und breitschultrig, vielleicht fünfzig oder sechzig Kilo schwer – aber immer noch ein Kind, kein Erwachsener. Mit den Proportionen und der Biegsamkeit eines Kindes konnte ich mich noch durch die schmalsten Tunnel quetschen. Normalerweise kroch ich jedoch nur ungern durch Morris’ Festungsanlagen. Schon vor einer ganzen Weile, als ich durch eine seiner ersten Bauten gekrabbelt war, hatte ich festgestellt, dass ich mich darin nicht besonders wohlfühlte, ja sogar beinahe Platzangst bekam. Jetzt aber – wohl auch, weil Eddy mir folgte –, wuchtete ich mich hinein, als gehörte es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, durch Morris’ Kartonfestungen zu robben.
    Ich kroch durch einen Tunnel nach dem anderen. In einer der Kisten stieß ich auf ein Pappregal, auf dem ein Marmeladenglas stand; Fliegen surrten darin herum, flogen leise, aber auch ein wenig panisch gegen das Glas. Die beengte Akustik der Kiste verstärkte und verzerrte das Geräusch so sehr, dass ich fast den Eindruck bekam, es würde in meinem Kopf summen. Einen Moment lang musterte ich die Insekten mit gerunzelter Stirn – würde Morris sie etwa hier drin sterben lassen? Dann kroch ich weiter. Ich schlängelte mich durch einen breiten Durchgang, dessen Wände mit Sternen, Monden und Grinsekatzen bedeckt waren, die im Dunkeln leuchteten – ich war von einer ganzen Neongalaxie umgeben. Die Wände waren schwarz gestrichen, und im ersten Moment konnte ich sie nicht ausmachen. Für einen kurzen, unerträglichen Augenblick hatte ich den Eindruck, es gäbe überhaupt keine Wände, als würde ich auf einer schmalen Rampe durch den leeren Raum kriechen, und unter mir und über mir erstrecke sich das

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