Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
im Auge zu behalten. Er wusste, dass er mir nicht erlauben durfte, zu ihm auf Abstand zu gehen – wenn wir keine Partner mehr waren, könnte ich alles Mögliche tun, vielleicht sogar ein Geständnis ablegen. Aber er wusste auch, dass ich nicht das Rückgrat hatte, eine Freundschaft zu beenden, und dass ich ihm nicht die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, wenn er klingelte. Dass es mir ähnlich sah, die ganze Sache einfach laufen zu lassen, ganz gleich, wie unangenehm mir das alles war, anstatt irgendetwas daran zu ändern, eine kränkende Konfrontation zu riskieren.
    Eines Nachmittags, ungefähr drei Wochen nach dem Unfall auf der 111, überraschte ich Morris in meinem Zimmer, wie er vor der Kommode stand. Die oberste Schublade war offen. In der einen Hand hielt er eine Schachtel mit Klingen für Teppichmesser; in der Schublade befand sich ein ganzer Haufen derartiger Kram – Bindfaden, Heftklammern, eine Rolle Isolierband –, und wenn Morris etwas für seine endlosen Bauprojekte benötigte, plünderte er bisweilen meine Vorräte. In der anderen Hand hielt er das Polaroid von Mindy Ackers Schoß. Er hielt es sich unmittelbar vor die Nase und glotzte es aus weit aufgerissenen Augen verständnislos an.
    »Du sollst nicht in meinen Sachen wühlen«, sagte ich.
    »Ist es nicht schade, dass man ihr Gesicht nicht sehen kann?«, murmelte er.
    Ich riss ihm das Bild aus der Hand und warf es in die Schublade. »Wag dich noch mal an meine Sachen, und ich mach dich einen Kopf kürzer.«
    »Du klingst wie Eddy.« Er wandte sich um und starrte mich an. Während der letzten Tage hatte ich ihn nicht oft zu sehen bekommen. Er hatte sich noch mehr als sonst im Keller verkrochen. Sein hageres, feinknochiges Gesicht kam mir noch schmaler vor als sonst. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie zierlich und zerbrechlich er wirkte, wie kindlich er gebaut war. Er war fast zwölf, aber er hätte locker als Achtjähriger durchgehen können. »Seid ihr denn immer noch Freunde?«
    Ich war fix und fertig, weil ich mir unablässig Sorgen machte, und antwortete, ohne nachzudenken. »Ich weiß es nicht.«
    »Warum sagst du ihm nicht, dass er dich in Ruhe lassen soll. Warum sorgst du nicht dafür, dass er verschwindet?« Er stand jetzt direkt vor mir und starrte mich, ohne zu blinzeln, aus seinen tellergroßen Augen an.
    »Das kann ich nicht«, sagte ich und wandte mich ab, weil ich seinen besorgten, verwunderten Blick nicht aushielt. Ich hatte das Gefühl, die Grenzen meiner Belastbarkeit erreicht zu haben – meine Nerven lagen blank. »Ich würde es ja gern. Aber niemand kann ihn zwingen wegzugehen.« Ich stützte mich auf die Kommode und legte für einen Augenblick den Kopf darauf. Mit einem heiseren Flüstern, das ich selbst kaum hören konnte, sagte ich: »Er darf mich nicht entwischen lassen.«
    »Wegen dem, was passiert ist?«
    Ich warf Morris einen überraschten Blick zu. Er hatte die Hände vor der Brust verschränkt und fuchtelte nervös mit den Fingerspitzen herum. Also hatte er doch etwas verstanden … vielleicht nicht alles, aber einen Teil. Genug. Er wusste, dass wir etwas Furchtbares getan hatten. Und er begriff, dass die Anspannung mich zu zerreißen drohte.
    »Du vergisst mal lieber, was passiert ist«, sagte ich mit einigermaßen fester Stimme und einem drohenden Unterton. »Und auch, was du gehört hast. Wenn das irgendjemand herausfindet … Morris, du darfst das niemandem erzählen. Niemals.«
    »Ich möchte dir helfen.«
    »Mir kann niemand helfen.« In diesem Augenblick wurde mir klar, wie recht ich damit hatte, und das raubte mir die letzte Kraft. Mit jämmerlicher, trauriger Stimme sagte ich: »Lass mich allein. Bitte.«
    Morris runzelte die Stirn und senkte den Kopf. Er wirkte verletzt, aber das würde vergehen. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin mit meiner neuen Festung jetzt fast fertig. Ich sehe alles vor mir. Wie sie genau werden wird.« Dann richtete er seinen typischen, unschuldigen Blick wieder auf mich. »Ich bau sie für dich, Nolan. Weil ich will, dass es dir besser geht.«
    Ich atmete leise aus und musste fast lachen. Einen Moment lang hatten wir uns unterhalten, als wären wir ganz normale Brüder, die sich liebten und füreinander da waren, einander ebenbürtig; für kurze Zeit hatte ich Morris’ Wahnvorstellungen und Hirngespinste vergessen; ich hatte vergessen, dass die Wirklichkeit für ihn etwas war, auf das er nur hin und wieder, durch die Nebelschwaden seiner Tagträume, einen Blick erhaschte.

Weitere Kostenlose Bücher