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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Für Morris bestand die einzig angemessene Reaktion auf ein Unglück darin, einen Wolkenkratzer aus Eierkartons zu bauen.
    »Danke, Morris«, sagte ich. »Du bist ein guter Kumpel. Aber du solltest dich von meinem Zimmer fernhalten.«
    Er nickte, allerdings noch immer mit gerunzelter Stirn, ging um mich herum und trat in den Flur hinaus. Ich sah ihm nach, wie er sich die Treppe hinunter von mir entfernte. Sein Vogelscheuchenschatten wankte die Wand entlang, wurde mit jedem Schritt größer, den er dem Licht im Erdgeschoss und einer Zukunft entgegenging, mit der er es ganz gemächlich aufnehmen würde, eine Kiste nach der anderen.
     
    Morris blieb bis zum Abendessen im Keller – Mutter musste dreimal nach ihm rufen, bevor er nach oben kam. Als er dann endlich am Tisch saß, waren seine Hände mit einem weißen, gipsartigen Puder bedeckt. Er kehrte in den Keller zurück, kaum dass das Geschirr im Seifenwasser der Spüle eingetaucht war, und blieb dort bis neun Uhr abends. Er ließ sich erst wieder blicken, als Mutter ihm lauthals verständlich machte, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.
    Kurz bevor ich selbst ins Bett gehen wollte, kam ich an der offenen Kellertür vorbei und blieb dort stehen. Ich hatte etwas gerochen, was ich zunächst nicht einordnen konnte: Leim, frische Farbe oder Gips – oder alles zusammen.
    Mein Vater betrat die Diele und stampfte mit den Füßen auf. Draußen lag eine dünne Schneedecke, und er war hinausgegangen, um die Stufen zu fegen.
    »Was ist das?«, fragte ich und rümpfte die Nase.
    Er kam zur Kellertür herüber und schnüffelte.
    »Ach«, sagte er schließlich. »Morris hat gesagt, er möchte was aus Pappmaschee machen. Lässt sich wirklich schwer voraussagen, was der kleine Kerl sich als Nächstes ausdenkt, hm?«
     
    Meine Mutter arbeitete jeden Donnerstag ehrenamtlich in einem Altenheim, wo sie Leuten mit schlechten Augen Briefe vorlas oder im Gruppenraum Klavier spielte, wobei sie so fest in die Tasten haute, dass sogar die Halbtauben es noch hören konnten. An diesen Nachmittagen wurde mir die Verantwortung für das Haus und meinen kleinen Bruder übertragen.
    An diesem Donnerstag war sie kaum zehn Minuten aus der Tür, als Eddy mit der Faust gegen den Hintereingang trommelte. »Hey, Partner«, sagte er. »Du wirst es nicht glauben. Mindy Ackers hat mich gerade fünf Spiele hintereinander plattgemacht. Ich muss ihr das Bild zurückgeben. Du hast es doch noch, oder? Will hoffen, dass du gut drauf aufgepasst hast.«
    »Das widerliche Teil kannst du gern zurückhaben«, erwiderte ich, ein wenig erleichtert darüber, dass er allem Anschein nach nur auf einen kurzen Abstecher vorbeigekommen war. So rasch wurde ich ihn nur selten wieder los. »Ich hol’s schnell. Es ist oben in meinem Zimmer.«
    Er trat sich die Stiefel von den Füßen und folgte mir in die Küche. »Wahrscheinlich liegt’s auf deinem Nachttisch, du kranker Bastard.« Er grinste.
    »Meint ihr Eddys Fotografie?«, fragte Morris. Seine Stimme hallte vom unteren Ende der Kellertreppe zu uns herauf. »Die hab ich. Hab sie mir angeschaut. Sie ist hier unten.«
    Ich war wahrscheinlich noch überraschter als Eddy, hatte ich Morris doch klipp und klar gesagt, dass er von dem Bild die Finger lassen sollte. Und normalerweise befolgte er eine solche deutliche Anweisung.
    »Morris, ich hab dir doch gesagt, du sollst meinen Kram in Ruhe lassen!«, brüllte ich.
    Eddy stand am oberen Treppenabsatz und spähte in den Keller hinab. »Was machst du denn gerade damit, du kleiner Wichser?«, rief er.
    Morris antwortete nicht, also trampelte Eddy die Stufen hinab, ich ihm dicht auf den Fersen.
    Kurz bevor er unten ankam, blieb er plötzlich stehen, stemmte die Arme in die Hüfte und starrte in den Keller hinein. »Wow! Cool.«
    Ein weitläufiges Labyrinth aus Pappkartons bedeckte den Kellerboden von einem Ende bis zum anderen. Morris hatte sie allesamt neu angemalt. Die Kisten, die der Treppe am nächsten standen, waren cremeweiß wie Vollmilch, doch je weiter sich das Kartongebilde ausdehnte, desto dunkler wurde es, erst blassblau, dann violett und schließlich kobaltblau. Die Kisten an der gegenüberliegenden Wand waren völlig schwarz und bildeten einen Horizont künstlicher Nacht.
    Ich entdeckte riesengroße Pappkartons mit Eingängen auf allen Seiten. Ich sah Fenster, die in der Form von Sternen und stilisierten Sonnen geschnitten waren. Erst dachte ich, vor diese Fenster seien durchsichtige Plastikscheiben in einem seltsamen

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