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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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hatte keine Ahnung, wie ich ihm das klarmachen sollte.
    Stattdessen sagte ich mit leicht tauben Lippen: »Falls Morris was verrät … aber das wird er nicht, das schwör ich … und selbst wenn er uns gehört haben sollte, hat er ja keine Ahnung, was wir da geredet haben … aber wenn er es doch jemandem erzählt … würdest du … würdest du dich dann …«
    »Umbringen?« Eddy stieß ein heiseres, verächtliches Geräusch aus, das tief aus der Kehle kam. »Scheiße, nein. Ich würde ihn umbringen! Aber er verrät doch nichts, oder?«
    »Nein.« Ich hatte Bauchschmerzen.
    »Und du wirst auch nichts verraten«, murmelte er. Allmählich wurde es spät, das Licht um uns herum wurde schwächer.
    »Nein.«
    Eddy stand langsam auf und versetzte meinem Bein im Vorbeigehen einen Klaps. »Ich muss los. Ich ess bei meinem Vetter zu Abend. Wir sehn uns dann morgen.«
    Ich wartete, bis ich hörte, wie in der Diele die Tür ins Schloss fiel. Dann erhob ich mich ebenfalls. Ich war ziemlich benommen und schwankte in den Flur, um nach oben zu gehen. Fast wäre ich dabei über Morris gestolpert. Er saß mit ausdruckslosem Gesicht, die Hände auf den Knien, sechs Stufen vom unteren Absatz entfernt. Er hatte dunkle Kleider an, und in dem dämmerigen Flur war nur sein wächsernes Gesicht zu sehen. Mein Herz machte einen Sprung, als ich ihn bemerkte. Einen Moment lang stand ich vor ihm und starrte auf ihn hinab. Er erwiderte meinen Blick mit einem Gesichtsausdruck, der so fremdartig und undurchdringlich wie immer war.
    Also hatte er doch alles mitbekommen – auch dass Eddy ihn umbringen würde, wenn er etwas weitererzählte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er uns wirklich verstanden hatte.
    Ich ging um ihn herum und in mein Zimmer hinauf. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, kroch ich völlig angezogen unter meine Bettdecke. Das Zimmer schwankte um mich herum, bis ich beinahe seekrank wurde und mir die Decke über den Kopf ziehen musste, um diese sinnlose, verwirrende Bewegung der Welt auszublenden.
     
    Am nächsten Morgen sah ich in der Zeitung nach, ob da etwas über den Unfall stand – kleines Mädchen nach gemeinem Anschlag im Koma. Aber da war nichts.
    Später an jenem Nachmittag rief ich im Krankenhaus an und sagte, mich würde interessieren, was bei dem Unfall gestern auf der 111 passiert sei. Da sei doch ein Wagen von der Straße abgekommen, die Windschutzscheibe herausgefallen, und irgendwelche Leute seien verletzt worden. Das alles mit schwankender, nervöser Stimme. Die Dame in der Vermittlung fing jedoch an, mir Fragen zu stellen: Warum wollte ich das wissen? Wer war ich eigentlich? Ich legte auf.
     
    Einige Tage später suchte ich in meinem Zimmer in den Taschen meines Wintermantels nach einem Päckchen Kaugummi. Dabei stieß ich auf ein scharfkantiges Quadrat, das irgendwie glitschig war und sich wie Plastik anfühlte. Ich zog es heraus und starrte das Polaroid von Mindy Ackers an, die zwischen ihren Beinen herumfummelte. Bei dem Anblick wurde mir übel. Ich zog die obere Schublade der Kommode auf, warf das Bild hinein und knallte die Schublade wieder zu. Mir stockte der Atem, wenn ich es nur ansah. Ich musste wieder daran denken, wie der Volvo gegen den Baum gekracht war, wie die Frau herausgeklettert war und »O Gott, Amy!« geschrien hatte, den Handschuh vor einem Auge … Mit der Zeit wurden meine Erinnerungen an den Unfall jedoch undeutlicher. Manchmal bildete ich mir ein, auf der Wange der Frau sei Blut gewesen. Manchmal glaubte ich, auf der zersplitterten Windschutzscheibe, die im Schnee gelandet war, sei Blut gewesen. Und manchmal hörte ich den Schmerzensschrei eines Kindes – wie das Pfeifen eines Wasserkessels. Es fiel mir ausgesprochen schwer, das abzuschütteln: Irgendjemand hatte geschrien, da war ich mir sicher, und das war nicht nur die Frau gewesen. Vielleicht ich.
     
    Danach wollte ich nichts mehr mit Eddy zu tun haben, aber ihm aus dem Weg gehen konnte ich auch nicht. Im Unterricht saß er neben mir und steckte mir Zettel zu. Ich musste ihm Zettel zurückgeben, damit er nicht dachte, dass ich ihn abblitzen ließ. Nach der Schule tauchte er oft ohne Vorwarnung bei mir zu Hause auf, und wir hockten gemeinsam vor dem Fernseher. Manchmal brachte er sein Damebrett mit und stellte die Spielsteine auf, während wir Hogan’s Heroes sahen. Inzwischen habe ich begriffen – und vielleicht war mir das damals auch schon klar –, dass er absichtlich in meiner Nähe blieb, um mich

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