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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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nach dem Tod beschäftigte ihn ständig – auch die Möglichkeit, dass es vielleicht gar keines gab.
    Wenn ich sage, wir redeten, meine ich damit, dass wir miteinander kommunizierten, dass wir uns stritten, dass wir uns gegenseitig niedermachten und uns gegenseitig aufbauten. Das heißt, ich redete – Art konnte nicht reden. Er hatte keinen Mund. Wenn er etwas zu sagen hatte, schrieb er es auf. An einer Schnur um den Hals trug er ein Notizbuch, und in seiner Tasche hatte er immer ein paar Wachsstifte. Die Schulaufsätze, die er abgab, waren mit Wachsstift geschrieben, die Prüfungen schrieb er mit Wachsstift – Sie können sich ja vorstellen, wie gefährlich ein gespitzter Bleistift für einen 100-Gramm-Jungen gewesen wäre, der aus Plastik und mit Luft gefüllt war.
    Ich glaube, einer der Gründe, warum wir beste Freunde waren, war der, dass er wunderbar zuhören konnte. Ich brauchte jemanden, der mir zuhörte. Meine Mutter war weg, und mit meinem Vater konnte ich nicht reden. Meine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, als ich drei war. Aus Florida schrieb sie meinem Vater einen langen, wirren Brief über Sonnenflecken und Gammastrahlen und die gefährliche Strahlung, die von Hochspannungsleitungen ausging, und darüber, wie das Muttermal auf ihrem linken Handrücken über den Arm bis zur Schulter hinaufgewandert war. Danach noch ein paar Postkarten. Dann nichts mehr.
    Mein Vater litt an Migräne. Nachmittags saß er im abgedunkelten Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah sich mit feuchten Augen die Soaps an. Er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn störte. Man konnte ihm nichts erzählen. Schon der Versuch war ein Fehler.
    »Blah, blah.« Mitten im Satz fuhr er mir über den Mund. »Mir platzt der Schädel, und du nervst mich mit deinem blah blah dies, blah blah das.«
    Art dagegen hörte mir zu. Als Gegenleistung beschützte ich ihn. Die anderen Kinder hatten Angst vor mir. Ich besaß ein Klappmesser, das ich manchmal mit in die Schule nahm, damit sie einen Blick darauf werfen konnten – damit die Angst nicht nachließ. Allerdings war das Einzige, in dem das Messer jemals steckte, die Wand meines Zimmers. Ich lag auf dem Bett und schleuderte es in die Korktäfelung, wo es mit einem Tschonk! stecken blieb.
    Eines Tages, als Art mich besuchte, fielen ihm die Löcher und Kratzer in der Wand auf. Ich erzählte es ihm, eins kam zum andern, und schon flehte er mich an, auch mal werfen zu dürfen.
    »Spinnst du?«, sagte ich. »Hast du völlig den Verstand verloren? Das kommt gar nicht infrage.«
    Er zog einen Wachsstift heraus – terracotta – und schrieb:
     
    Dann lass es mich wenigstens anschauen.
     
    Ich klappte das Messer auf. Er starrte es mit weit aufgerissenen Augen an. Eigentlich starrte er alles mit weit aufgerissenen Augen an. Sie waren aus glasig glänzendem Plastik und klebten auf der Oberfläche seines Gesichts – er konnte nicht blinzeln oder so. Doch diesmal war sein Blick anders als das übliche glubschäugige Starren. Diesmal war er wirklich gebannt. Er schrieb:
     
    Ich bin ganz vorsichtig, ehrlich, ich versprech’s. Bitte!
     
    Ich gab ihm das Messer. Er drückte die Spitze gegen den Fußboden, so dass die Klinge in den Griff schnappte. Dann drückte er auf den Knopf, und die Klinge sprang wieder heraus. Zitternd starrte er das Messer in seiner Hand an. Und dann, ohne jede Vorwarnung, schleuderte er es gegen die Wand. Natürlich blieb das Messer nicht stecken, dafür brauchte man Übung, über die er nicht verfügte, und einen harmonischen Bewegungsablauf, über den er, ehrlich gesagt, nie verfügen würde. Es prallte ab und flog zurück in seine Richtung. Er sprang so schnell hoch, dass ich glaubte, sein Geist spränge aus seinem Körper heraus. Das Messer schlug an der Stelle, wo er gestanden hatte, auf dem Boden auf und schlitterte unter mein Bett.
    Ich zog Art wieder nach unten. Er schrieb:
     
    Du hattest recht, das war dumm von mir. Ich bin eben ein Verlierer. Ein Trottel.
     
    »Wie wahr«, sagte ich.
    Aber er war kein Verlierer, auch kein Trottel. Mein Vater war ein Verlierer, die Jungs in der Schule waren Trottel. Art war anders. Er hatte ein riesengroßes Herz. Er wollte einfach, dass ihn jemand mochte.
    Außerdem war er – und dafür kann ich mich verbürgen – das argloseste Wesen, dem ich jemals begegnet bin. Er würde nicht nur nie einer Fliege etwas zuleide tun – er könnte es gar nicht. Wenn er auf eine draufschlug und dann seine Hand hob, summte sie unversehrt

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