Black Box
mitten in einer Klassenarbeit in Tagträumen. Ich konnte nicht mehr richtig rennen, also wurde ich in Sport zum Totalausfall, und weil ich auch nicht mehr richtig denken konnte, wurden meine anderen Noten ebenfalls immer schlechter.
Da ich mit den anderen Kindern nicht mehr richtig mithalten konnte, blieb ich nach der Schule zu Hause und las Comics. Ich könnte nicht sagen, wer damals mein Lieblingsheld war, ja ich kann mich nicht einmal an meine Lieblingsgeschichte erinnern. Ich las die Comics nicht aus Spaß oder besonderem Interesse, sondern weil ich nicht anders konnte: Die auf billigem Papier gedruckten Geschichten mit ihren grellen Farben und ihren Figuren, die alle irgendetwas zu verbergen hatten, zogen mich in den Bann. Ich war geradezu süchtig nach den Heften, nach den Superhelden darin, die über den Himmel schossen und die Wolken zerfetzten. Wenn ich das las, spürte ich, am Leben zu sein. Alles andere dagegen wirkte verschwommen, gedämpft, blass.
Es sollten über zehn Jahre vergehen, bis ich wieder flog.
Ich war kein Sammler, und wenn mein Bruder nicht gewesen wäre, wären meine Comics wohl einfach irgendwo herumgelegen. Er verschlang sie jedoch ebenso zwanghaft wie ich und bewahrte sie, alphabetisch sortiert und sorgfältig in Klarsichthüllen verpackt, in weißen Kartons auf.
Dann kam er eines Tages mit einem Mädchen nach Hause – das war noch nie da gewesen. Damals war ich fünfzehn, und Nick stand auf der Passos High am Anfang seines letzten Jahres. Er sagte, er wolle nur kurz seinen Rucksack nach oben bringen, ließ mich mit ihr im Wohnzimmer allein, rannte rauf in unser Zimmer, steckte alle unsere Comics, fast achthundert Hefte, in zwei große Mülltüten und schlich damit hinters Haus.
Ich kann gut verstehen, warum er das getan hat. Sich mit einem Mädchen zu verabreden, war für Nick nicht einfach. Sein operiertes Gesicht machte ihm zu schaffen, obwohl es eigentlich gar nicht so schlimm war. Vielleicht war sein Unterkiefer ein wenig kantig und die Haut etwas zu straff, so dass er manchmal wie die Karikatur eines grüblerischen Superhelden aussah. Aber er war nicht der Elefantenmensch, auch wenn sein verkniffenes Lächeln manchmal ziemlich abstoßend wirkte – als bereite es ihm Schmerzen, die Lippen zu bewegen und sein falsches, gleichmäßiges Clark-Kent-Gebiss zu zeigen. Er betrachtete sich unentwegt im Spiegel, suchte nach dem Makel, der schuld daran war, dass die anderen ihn mieden. Es fiel ihm nicht leicht, mit Mädchen zusammen zu sein; ich hatte da schon mehr Erfahrung, obwohl ich drei Jahre jünger war. Er konnte es sich also nicht leisten, uncool zu wirken. Die Comics mussten einfach weg.
Sie hieß Angie. Sie war so alt wie ich und neu auf der Schule. Wie konnte sie da wissen, dass mein Bruder eine Niete war? Sie roch nach Patschuli und trug eine Strickmütze in den Farben der jamaikanischen Flagge: Rot, Gold, Grün. Wir besuchten dasselbe Englischseminar, sie erkannte mich wieder. Am kommenden Tag stand eine Prüfung über »Der Herr der Fliegen« an. Ich fragte sie, wie sie das Buch fände, und sie gab zu, es noch nicht zu Ende gelesen zu haben. Also bot ich ihr meine Hilfe an.
Als Nick endlich unsere Comicsammlung weggeworfen hatte und wieder im Wohnzimmer auftauchte, lagen wir nebeneinander auf dem Bauch. Im Fernsehen lief MTV. Ich hatte den Roman aufgeschlagen und ging mit ihr einige Stellen durch, die ich mir angestrichen hatte. Was ich sonst nie tat. Wie gesagt, ich war ein schlechter Schüler, aber »Der Herr der Fliegen« hatte mich begeistert und meine Phantasie wochenlang beschäftigt. Ich wollte barfuß auf einer Insel leben, der Anführer einer Bande von Jungen sein und sie zu wilden Ritualen anstacheln. Die Passage, in der Jack sich das Gesicht anmalt, habe ich wieder und wieder gelesen – ich hätte mir nur allzu gerne selbst das Gesicht mit bunten Farben bemalt, um ein freies, primitives Leben zu führen.
Nick saß auf der anderen Seite von Angie und schmollte, weil er sie nicht mit mir teilen wollte. Er konnte auch nicht mitreden, denn er hatte das Buch nicht gelesen. Er hatte in Englisch immer die Fortgeschrittenenkurse belegt, wo Milton und Übersetzungen von Dante gelesen wurden, während ich in Abenteuer Englisch!, dem Kurs für die zukünftigen Hausmeister und Klempner unter den Schülern, schlechte Noten sammelte. Niemand setzte große Hoffnungen in uns, also wurden wir für unsere Dummheit mit den wirklich tollen Büchern belohnt.
Angie blickte
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