Black Box
unserem Vorgarten hinauf, um meinem Bruder zu entkommen, meinem Bruder, der in diesem Moment niemand anderes sein wollte, nur er selbst. Er erwartete Besuch von Freunden und hätte es am liebsten gehabt, wenn ich nicht da gewesen wäre, aber den Gefallen konnte ich ihm nicht tun: Ich war da.
Ich hatte seine Maske aufgesetzt und ließ ihn wissen, dass ich seine Geheimidentität verraten würde, wenn seine Freunde kämen. Er stand unter dem Baum, warf mit Steinen nach mir und rief, er würde Hackfleisch aus mir machen. Doch er warf wie ein Mädchen, und ich kletterte rasch außer Reichweite.
Auf einmal war er also zu groß, um Superheld zu spielen, und das ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Vor Halloween hatte er sich noch tagelang als Gelber Blitz verkleidet. Der Gelbe Blitz konnte so schnell rennen, dass der Boden unter seinen Füßen schmolz. Dann war Halloween vorbei, und mein Bruder wollte kein Superheld mehr sein. Und nicht nur das: Alle sollten vergessen, dass er jemals einer gewesen war, und er selbst wollte das auch. Aber ich machte ihm einen Strich durch die Rechnung, denn ich hockte mit seiner Maske oben im Baum – und gleich würden seine Freunde vorbeikommen.
Die Ulme war schon seit Jahren tot. Immer wenn es stürmte, rissen Böen ihre Äste ab, schleuderten sie über den Rasen. Die Rinde splitterte und knirschte laut unter meinen Füßen. Mein Bruder hatte keine Lust, mich auf den Baum zu verfolgen – das war unter seiner Würde –, und ich fand es wunderbar, ihm entwischt zu sein.
Ohne groß darüber nachzudenken, kletterte ich höher als je zuvor. Ich verfiel in einen regelrechten Rausch – es fühlte sich großartig an, sieben Jahre alt und so gelenkig zu sein. Dann hörte ich meinen Bruder rufen, dass er mich jetzt einfach nicht mehr beachten würde – womit er natürlich das Gegenteil bewies –, und mir fiel wieder ein, weshalb ich überhaupt auf die Ulme geklettert war: Ich wollte mich auf einen Ast setzen, mit den Beinen baumeln und meinen Bruder ärgern, ohne Angst vor den Folgen haben zu müssen. Ich strich das Cape über meine Schultern zurück und hangelte mich entschlossen weiter.
Das Cape war früher meine Lieblingsdecke gewesen, die mir, seit ich zwei Jahre alt war, treue Dienste geleistet hatte. Im Laufe der Zeit war ihre Farbe verblasst, war aus dem schimmernden Blau ein stumpfes Taubengrau geworden. Also hatte sie meine Mutter auf die Größe eines Capes geschnitten und einen roten Blitz in die Mitte genäht. Daneben das Marineabzeichen meines Vaters, auf dem die Zahl Neun zu sehen war, die ebenfalls von einem Blitz durchbohrt wurde. Das Abzeichen war mit seiner Feldkiste aus Vietnam gekommen. Allerdings ohne ihn. Meine Mutter hatte die schwarze POW-Flagge auf der Veranda aufgezogen, doch schon damals wusste ich, dass mein Vater von niemandem gefangen gehalten wurde.
Immer wenn ich von der Schule nach Hause kam, zog ich sofort das Cape über. Ich nuckelte an seinem Satinsaum, wenn ich fernsah, wischte mir am Esstisch den Mund damit ab und schlief in den meisten Nächten damit ein. Es war furchtbar für mich, wenn ich es ausziehen musste; ohne das Cape fühlte ich mich nackt, verwundbar.
Ich erreichte den Ast ganz oben, warf ein Bein herum und setzte mich rittlings darauf. Was dann geschah, hätte ich selbst nie geglaubt, wäre mein Bruder nicht dabei gewesen. Bestimmt hätte ich mir später eingeredet, das alles sei ein von Panik hervorgerufenes Hirngespinst, eine Wahnvorstellung gewesen.
Nicky befand sich etwa fünf Meter unter mir, starrte wütend herauf und erklärte mir ausführlich, was er mit mir machen würde, wenn er mich in die Finger bekäme. Ich hielt seine Maske hoch, so ein schwarzes Ding, wie es Zorro trägt, und winkte ihm damit zu.
»Dann komm doch und hol mich, Gelber Blitz«, rief ich.
»Du solltest besser da oben übernachten.«
»Der Blitz auf unserem Sicherungskasten ist schneller als du.«
»Okay, das war dein Todesurteil.« Mein Bruder war mit Worten ebenso geschickt wie beim Steinewerfen: kein bisschen.
»Blitz, Blitz, Blitz«, rief ich, da ihn schon der Name maßlos ärgerte. Ich rutschte immer weiter den Ast hinaus, wobei mir das Cape von den Schultern glitt und ich es mit der rechten Hand festhalten musste. Dann plötzlich spürte ich, wie sich das Cape spannte und mich aus dem Gleichgewicht brachte. Ich hörte Stoff reißen und kippte zur Seite weg. Ich konnte mich gerade noch mit den Armen festhalten. Der Ast beugte sich unter meinem Gewicht,
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