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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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federte nach oben, beugte sich wieder … und dann vernahm ich ein scharfes Knacken, das in der frischen Novemberluft nachhallte.
    Mein Bruder wurde bleich. »Eric«, rief er. »Eric, halt dich fest!«
    Warum wollte er, dass ich mich festhielt? Der Ast brach – ich musste runter von ihm. War er zu erschrocken, um das zu kapieren? Oder wollte er vielleicht, dass ich abstürzte? Verzweifelt überlegte ich, was ich tun sollte, und in diesem Augenblick des Zögerns gab der Ast nach. Über mir drehte sich der Himmel, mein Magen schlug Purzelbäume.
    Mein Bruder sprang zur Seite. Der Ast – immerhin anderthalb Meter lang – krachte direkt vor ihm auf den Boden, Rinde und Zweige flogen in alle Richtungen.
    Und ich? Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich nicht hinuntergefallen war, dass ich auf den Vorgarten hinabstarrte, als säße ich immer noch auf dem Ast.
    Nicky glotzte mit offenem Mund zu mir hoch.
    Ich hatte die Knie gegen die Brust gedrückt und die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Ich schwebte in der Luft, nichts hielt mich. Ich schwankte nach rechts und links, wie ein Ei, das einfach nicht umfallen will.
    »Eric?« Nickys Stimme zitterte.
    »Nicky?« Meine nicht weniger.
    Ein Windstoß fuhr durch die nackten Zweige der Ulme. Das Cape wellte sich an meinen Schultern.
    »Komm da runter, Eric! Komm runter!« Mein Bruder stand mit nach oben gestreckten Armen da, als wollte er meine Knöchel packen und mich nach unten ziehen, dabei war er viel zu weit von mir entfernt.
    In diesem Moment sah ich in meinen Augenwinkeln etwas aufblitzen. Normalerweise wurde der Umhang an meinem Hals von einer goldenen Sicherheitsnadel zusammengehalten. Diese Nadel hatte sich an einer Ecke gelöst und hing nun nutzlos herab. Mir fiel wieder ein, dass ich das Reißen von Stoff gehört hatte, als der Ast unter mir wegbrach … Nichts hielt das Cape mehr zusammen.
    Eine weitere Bö fuhr durch die Zweige. Die Ulme ächzte. Der Wind riss mir das Cape vom Rücken. Ich sah noch, wie es fortgetragen wurde, als zögen daran unsichtbare Schnüre, dann fiel ich. Der Boden kam mit so rasender Geschwindigkeit auf mich zu, dass ich nicht einmal mehr schreien konnte.
    Ich schlug direkt auf dem zersplitterten Ast auf. Ein langes Stück Holz bohrte sich mir wie ein Spieß in die Brust – als die Wunde heilte, blieb unter dem Schlüsselbein eine glänzende Narbe zurück, mein interessantestes Kennzeichen. Außerdem brach ich mir das Wadenbein, zermalmte mir die linke Kniescheibe und erlitt einen zweifachen Schädelbasisbruch. Blut schoss mir aus Nase und Mund.
    An den Krankenwagen kann ich mich nicht mehr erinnern, obwohl man mir später erzählte, ich hätte nie ganz das Bewusstsein verloren. Aber ich erinnere mich noch gut, wie sich das weiße, angsterfüllte Gesicht meines Bruders über mich beugte. Er hatte das Cape aufgehoben und zerknüllte es mit seinen Händen.
    Sämtliche Zweifel daran, dass das alles auch wirklich so passiert war, wurden zwei Tage später beseitigt. Ich lag noch im Krankenhaus, als mein Bruder sich das Cape umband und zu Hause vom obersten Treppenabsatz sprang. Er stürzte alle achtzehn Stufen hinunter. Im Krankenhaus wurde er im selben Zimmer untergebracht wie ich, doch wir redeten kein Wort miteinander. Er wandte mir den ganzen Tag lang den Rücken zu und starrte die Wand an. Ich weiß nicht, warum er mich nicht ansehen wollte – vielleicht war er wütend, weil das Cape ihn nicht in der Luft gehalten hatte, oder er war wütend, weil er überhaupt gedacht hatte, es könnte das tun, oder ihm machte einfach der Gedanke zu schaffen, dass seine Freunde über ihn lachen würden, wenn sie erfuhren, dass er auf die Fresse gefallen war, während er versucht hatte, Superman zu spielen. Aber ich begriff bald, warum er nicht mit mir sprach: Sein Kiefer wurde von Drähten zusammengehalten; sechs Klammern und drei Operationen waren nötig, um sein Gesicht einigermaßen wiederherzustellen.
    Als wir schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wurden, war das Cape verschwunden. Unsere Mutter erklärte, dass sie es weggeworfen habe. Im Shooter-Haushalt wäre es jetzt mit dem Fliegen vorbei.
    Der Unfall veränderte mein Leben grundlegend. Mein Knie schmerzte, wenn ich es zu sehr belastete, wenn es regnete und wenn es kalt war. Bei grellem Licht bekam ich entsetzliche Kopfschmerzen. Es fiel mir schwer, mich für längere Zeit zu konzentrieren, dem Unterricht eine ganze Stunde lang zu folgen. Zuweilen verlor ich mich

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