Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
zusammen und drückte es auf die Wunde am Hals des Jungen.
    Das Halstuch, ein dünnes, fast durchsichtiges Stück Seide, sog sich in Sekundenschnelle voll, und schon bald lief Blut über Wyatts Hände und Unterarme. Er ließ das Tuch fallen und wischte sich hektisch die Hände an seinem Pullover ab. Bei alldem beobachtete ihn Baxter wie gebannt. Seine Augen waren so blau wie die seiner Mutter.
    Wyatt begann zu weinen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das das letzte Mal getan hatte. Er griff nach den zusammengehefteten Blättern, die aus Mrs. Prezars Handtasche gefallen waren, und versuchte, sie in die Wunde zu drücken, aber sie waren noch nutzloser als das Halstuch. Das Papier war hell und überhaupt nicht saugfähig. Im Zwielicht erkannte Wyatt, dass er einen Kreditkartenauszug in der Hand hielt, auf dessen Vorderseite zwei rote Wörter gestempelt waren: ZAHLUNG ÜBERFÄLLIG.
    Er überlegte, ob er die Handtasche ausleeren sollte – vielleicht fand er dort ja etwas, das er als Kompresse benutzen konnte –, doch dann hatte er eine andere Idee: Er schlüpfte aus seiner Jacke, zog die Weste aus, die er immer bei der Arbeit trug, rollte sie zusammen und presste sie auf die Wunde. Er hielt sie mit beiden Händen fest. In der Dunkelheit war die Weste fast leuchtend weiß, aber es dauerte nicht lange, da sah Wyatt, wie sich auf ihr ein dunkler Fleck bildete. Was sollte er nur tun? Er musste an Kensington denken. Sie hatte ihre Zunge mit Taschentüchern abgetupft, Taschentücher, die auch immer gleich ganz rot gewesen waren … Und dann hatte er einen Gedanken, der den Silberstecker in Kensingtons Zunge und die Wunde in Baxters Hals miteinander verband: Wie junge Menschen doch von Liebe verletzt werden. Wie unschuldige Körper grundlos verstümmelt werden, nur weil jemand, der behauptet, sie zu lieben, es so will.
    Langsam hob Baxter die linke Hand. Wyatt hätte fast aufgeschrien, als er die gespenstische, weiße Silhouette durch die Dunkelheit gleiten sah. Offenbar versuchte der Junge nach seiner Wunde zu greifen. Erst wollte ihn Wyatt davon abhalten, doch dann nahm er Baxters Hand und drückte sie auf die Kompresse. Darauf langte er ins Auto, griff nach der anderen Hand des Jungen und legte sie ebenfalls auf die blutgetränkte Weste. Als er schließlich losließ, blieben beide Hände, wie sie waren. Sie hatten nicht viel Kraft – aber sie hielten die Kompresse fest.
    »Ich bin nur ganz kurz weg«, sagte Wyatt, am ganzen Körper zitternd. »Ich lauf zur Straße, hol jemand, und dann bringen wir dich ins Krankenhaus. Alles wird gut. Du musst das nur gegen deinen Hals drücken. Alles wird gut, versprochen!«
    Baxter starrte ihn mit glasigen Augen an. Einen Moment lang erwiderte Wyatt den Blick, dann drehte er sich um und rannte los, rannte, so schnell er konnte. Außer dem dumpfen Geräusch seiner Schritte war nichts zu hören. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er heftiges Seitenstechen bekam. Obwohl er tief und regelmäßig atmete, schien er nicht genug Luft in die Lungen zu bekommen. Vielleicht wegen der ganzen Zigaretten. Er senkte den Kopf, biss sich auf die Lippen, sprintete weiter, versuchte nicht daran zu denken, um wie viel schneller er ohne das Seitenstechen wäre. Als er nach einer Weile zurückblickte, musste er allerdings feststellen, dass er erst ein paar hundert Meter weit gekommen war und noch immer Mrs. Prezars Auto sehen konnte. Erneut fing er an zu weinen. Und während er weiterrannte, betete er.
    »Bitte, lieber Gott«, flüsterte er in die Februar-Dunkelheit. Er rannte und rannte, hatte aber nicht das Gefühl, wirklich vorwärtszukommen. Es war wie damals bei dem verhängnisvollen Baseballspiel, das gleiche Gefühl von Hoffnungslosigkeit. »Bitte, mach mich schnell«, flehte er. »Lass mich wieder schnell rennen … Mach mich so schnell wie früher.«
    Dann nach der nächsten Biegung, kam die 17K in Sicht; sie war weniger als einen halben Kilometer entfernt. An der Auffahrt stand eine Straßenlaterne, und darunter parkte ein Auto – ein hellbrauner Crown Victoria mit Blaulicht, das allerdings nicht an war. Ein Polizeiwagen. Wirklich seltsam, dass er gerade an das Spiel gedacht hatte, schoss es Wyatt durch den Kopf – vielleicht war das da vorne ja Treat Rendell. Ein Mann, auf diese Entfernung nur eine Silhouette, stieg aus und blieb neben der Motorhaube stehen. Wyatt hob die Arme und rief um Hilfe.

Das Cape
    Wir waren klein.
    Ich war der Rote Pfeil und kletterte die abgestorbene Ulme in

Weitere Kostenlose Bücher