Black Box
mir vorstellen, wie der Wind durch die Wipfel der großen Kiefern im Norden Alaskas strich.
Eines Nachts wachte ich in meinem Kellerraum auf, und es war bitterkalt. Mein Atem dampfte bläulich im Licht des Fernsehers, den ich vergessen hatte auszumachen. Bevor ich ins Bett gegangen war, hatte ich ein paar Bier gekippt, und nun musste ich so dringend pissen, dass es beinahe wehtat.
Normalerweise schlief ich unter einer großen Steppdecke, die meine Großmutter genäht hatte, doch ich hatte Chinafraß darauf gekleckert, sie dann in die Wäsche geworfen und war nicht dazugekommen, sie zu trocknen. Also hatte ich vor dem Schlafengehen den Wäscheschrank geplündert und einige alte Decken aus meiner Kindheit heruntergeschleppt: eine bauschige Federdecke, auf der Figuren aus Das Imperium schlägt zurück prangten, eine rote Wolldecke, über die ein Fokker-Geschwader raste, und dergleichen mehr. Da keine mehr groß genug für mich war, deckte ich mich so mit ihnen zu, dass sie einander überlappten: eine für meine Füße, eine für Beine und Bauch, eine für meine Brust.
Sie hatten mich immerhin so lange warm gehalten, bis ich eingeschlafen war, doch nun waren sie völlig zerwühlt. Wegen der Kälte hatte ich die Knie an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen. Die Zehen dagegen konnte ich kaum mehr spüren, als wären sie bereits erfroren und amputiert worden.
Mir war schummrig im Kopf, ich war nicht wirklich wach. Ich wusste nur, ich musste pinkeln und wieder warm werden. Ich stand auf und schwebte durch die Finsternis Richtung Badezimmer. Zuvor hatte ich mir die kleinste der Decken über die Schultern gelegt. Und obwohl ich mich vorwärtsbewegte, meinte ich immer zusammengerollt dazuliegen. Dann, als ich über der Toilette war und an meiner Boxershorts herumfummelte, sah ich nach unten und stellte fest, dass ich die Knie tatsächlich an die Brust gezogen hatte, dass meine Füße den Boden nicht berührten – sie hingen etwa einen halben Meter über der Toilette.
Die Umgebung verschwamm, für einen Moment fühlte ich mich völlig benommen – nicht weil ich mich so erschrocken hatte, sondern weil ich so erstaunt war. Ich war nicht schockiert –, irgendetwas in mir hatte womöglich die ganze Zeit darauf gewartet, wieder zu fliegen.
Allerdings war »fliegen« nicht unbedingt die richtige Bezeichnung für das, was ich gerade tat. Es war eher ein kontrolliertes Schweben. Ich war wieder wie ein Ei geworden, wackelig, unbeholfen. Langsam streckte ich die Arme aus, meine Fingerspitzen strichen über die Wand, ich konnte mich ein wenig abstützen.
Ich spürte, wie Stoff an meiner Schulter rieb, und senkte zögerlich den Blick, als könnte mich sogar die Bewegung meiner Augen aus dem Gleichgewicht bringen. Am Rand meines Gesichtsfelds sah ich den blauen Saum einer Decke und den Ansatz eines rotgelben Abzeichens. Erneut überkam mich starkes Schwindelgefühl, ich geriet ins Schlingern. Und wie vor fast vierzehn Jahren glitt mir die Decke von den Schultern. Im gleichen Augenblick ging es abwärts. Ich schlug mir das Knie am Toilettenrand auf und fasste mit einer Hand in die Schüssel, tief in das eiskalte Wasser hinein.
Da saß ich nun und betrachtete das Cape über meinen Knien, während das erste Morgenlicht silbern durch die Fenster hoch oben in der Kellerwand fiel.
Das Cape war kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, nicht viel größer als ein Kissenbezug. Obwohl sich einige Fäden gelöst hatten und eine Ecke abstand, prangte der rote Blitz aus Filz immer noch darauf. Und auch das Marineabzeichen meines Vaters war noch da: ein zuckender Blitz vor einem feuerartigen Hintergrund.
Natürlich hatte meine Mutter die Decke nicht weggeworfen. Sie warf nie etwas weg, denn sie glaubte, dass sie alles irgendwann noch einmal würde brauchen können. Hamstern war ihr Fimmel, sparen ihre Obsession. Sie hatte keine Ahnung, wie man ein Haus renovierte, aber sie würde nicht einmal im Traum darauf kommen, jemand anderen dafür zu bezahlen. Es war der falsch verstandene Stolz der weißen Unterschicht, und obwohl ich noch nicht so lange wieder zu Hause wohnte, ging mir das alles schon wieder gehörig auf die Nerven.
Das Satinband des Umhangs war gerade lange genug, dass ich es mir um den Hals binden konnte.
Für eine Weile saß ich mit hochgezogenen Beinen und dem Cape auf dem Rücken auf der Bettkante, wie eine Taube auf einem Fenstersims. Keinen halben Meter unter mir war der Boden, aber ich starrte zu ihm
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