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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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… Stattdessen sank ich kurz nach unten – und dann ging es aufwärts. Das Cape flatterte an meinen Schultern.
    Während ich darauf gewartet hatte, dass meine Mutter ins Bett ging, hatte ich mir im Keller mit einem ihrer Lippenstifte eine glänzend rote Maske auf das Gesicht gemalt. Ich wollte nicht, dass mich jemand sah, wenn ich draußen herumflog, und falls doch, würde die Maske hoffentlich verhindern, dass man mich erkannte. Außerdem hatte es sich gut angefühlt, sich das Gesicht zu bemalen, es war auf seltsame Weise erregend, den Lippenstift fest und glatt auf der Haut zu spüren. Als ich fertig war, stand ich eine Weile vor dem Spiegel und betrachtete mich. Die rote Maske gefiel mir. Sie war schlicht und ließ mich doch fremdartig und ungewöhnlich erscheinen. Dieser neue Mensch, der da meinen Blick erwiderte, weckte meine Neugier. Was er wohl wollte? Wozu er wohl in der Lage war?
    Nachdem sich meine Mutter hingelegt hatte, war ich nach oben geschlichen und durch eines der Löcher in der Wand des Kinderzimmers auf das Dach geklettert. Von den Schindeln fehlten einige, andere waren lose und schief. Noch so eine Sache, die meine Mutter selbst reparieren wollte. Nun, hoffentlich rutschte sie dabei nicht ab und brach sich das Genick. Hier draußen, wo die Welt den Himmel berührte, war alles möglich. Niemand wusste das besser als ich.
    Ich war lange dagesessen, hatte meine Finger geknetet – es war bitterkalt – und all meinen Mut zusammengenommen, um einhunderttausend Jahre menschlicher Evolution zu überwinden, die mir zurief, dass ich sterben würde, wenn ich über die Dachkante rutschte. Doch nun schwebte ich in der kalten, klaren Luft zehn Meter über dem Rasen.
    Bestimmt wollen Sie jetzt hören, dass ich von der Aufregung überwältigt wurde, dass ich in Freudengeschrei ausbrach. Aber ich muss Sie enttäuschen. Meine Empfindungen waren weitaus gedämpfter. Gut, mein Puls ging schneller, und einen Moment lang stockte mir der Atem, doch dann breitete sich eine Stille in mir aus, als würde alles um mich herum stehen bleiben. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich nach innen, ich konzentrierte mich mit aller Macht darauf, das Gleichgewicht zu halten. Instinktiv, fast schon aus Gewohnheit, drückte ich die Knie gegen die Brust und streckte die Arme seitlich aus.
    Der Mond war etwa zu einem Viertel zu sehen, hell genug, dass sich auf dem Boden scharf umrissene Schatten abzeichneten. Die eisigen Vorgärten unter mir leuchteten, als sei jeder einzelne Grashalm verchromt.
    Ich glitt vorwärts und kurvte um die Krone eines Ahornbaums herum. Die abgestorbene Ulme stand schon lange nicht mehr, sie war bei einem Gewitter vor acht Jahren auseinandergebrochen. Die obere Hälfte war auf das Haus gestürzt, und ein langer Ast hatte eines der Fenster zum Kinderzimmer zertrümmert – ganz so, als wollte der Baum immer noch nach mir greifen, mich immer noch umbringen.
    Es war kalt, und es wurde immer kälter, je höher ich stieg. Doch das war mir egal. Ich wollte einfach über den Dingen sein.
    Die Stadt war an den Hängen eines Tals errichtet worden und sah aus wie eine schwarze Schüssel, in der kleine Lichter blitzten. Plötzlich hörte ich von links einen klagenden Laut, und mein Herz machte einen Satz. Ich zwinkerte in die tintenschwarze Nacht und sah eine Wildgans mit schwarzem Kopf und smaragdgrünem Hals, die mich neugierig anstarrte. Sie blieb leider nicht lange an meiner Seite, sondern tauchte weg und verschwand in südlicher Richtung.
    Eine ganze Weile wusste ich nicht, wohin ich flog. Und ich wusste auch nicht, wie ich zurückgelangen sollte, ohne zweihundert Meter in die Tiefe zu stürzen. Dann, als ich meine Finger nicht mehr krümmen konnte und mein Gesicht völlig taub geworden war, beugte ich mich leicht nach vorne und sank langsam abwärts, so wie ich es im Keller stundenlang geübt hatte.
    Wenige Meter über der Powell Avenue stoppte ich den Sinkflug. Dann schwebte ich drei Blocks weiter, legte mich in eine Linkskurve und segelte wie im Traum auf Angies Haus zu. Ihre Schicht im Krankenhaus war gerade zu Ende.
    Sie verspätete sich jedoch um fast eine Stunde. Ich saß auf dem Garagendach, als sie in dem bronzefarbenen Civic, der einmal uns beiden gehört hatte, in die Einfahrt bog. Die Stoßstange fehlte, und die Motorhaube war eingedrückt – mein halbherziger Versuch, der Polizei zu entkommen, hatte an einer Mülltonne geendet.
    Sie war geschminkt und trug ihr hellgrünes Kleid, das eigentlich

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