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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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hinunter, als wären es zwanzig Meter. Schließlich stieß ich mich ab.
    Und schwebte. Mir stockte der Atem, und es dauerte einige Sekunden, bevor ich mich zwang auszuatmen – ich schnaubte dabei wie ein Pferd.
    Um neun Uhr morgens hämmerte meine Mutter mit den hölzernen Absätzen ihrer Schuhe auf den Boden über mir, doch ich schenkte ihr keinerlei Beachtung. Um zehn öffnete sie die Kellertür und rief »Stehst du denn überhaupt nie auf?« zu mir herunter. Ich brüllte zurück, dass ich längst aufgestanden sei. Was zutraf: Ich schwebte einen Meter über dem Boden.
    Zu diesem Zeitpunkt war ich schon mehrere Stunden geflogen – aber wie gesagt, der Ausdruck »fliegen« weckt womöglich falsche Assoziationen. Man hat Superman vor Augen. Stellen Sie sich in meinem Fall lieber einen Mann vor, der mit angezogenen Knien auf einem fliegenden Teppich sitzt. Und dann denken Sie sich den Teppich weg …
    Jedenfalls bewegte ich mich mit einer Geschwindigkeit vorwärts, die man als »majestätisch« bezeichnen könnte. Ich schwebte dahin wie ein Festwagen bei einem Umzug. Ich brauchte nur in eine bestimmte Richtung zu blicken, und schon ging es los – als würde ich von einem starken Luftstrom angetrieben, den Blähungen der Götter.
    Es dauerte ein wenig, bis ich die Kurven hinbekam, doch schließlich lernte ich, auf die gleiche Weise die Richtung zu wechseln wie bei einem Kanu: Ich warf einen Arm in die Luft und zog den anderen ein. Dann drehte ich mich mühelos nach rechts oder links, je nachdem, welches metaphorische Ruder ich ins Wasser gleiten ließ. Nachdem ich den Dreh raushatte, war es ein ziemlich berauschendes Gefühl, sich in eine Kurve zu legen. Ich meinte, dabei sogar etwas schneller zu werden, und die abrupte Bewegung kitzelte in meinem Magen wie ein Schmetterling.
    Lehnte ich mich wie in einem Sessel nach hinten, stieg ich nach oben. Als ich das zum ersten Mal versuchte, schoss ich ruckartig hoch und schlug mir den Kopf so fest an einem Messingrohr an, dass sich ganze Sternenkonstellationen vor meinen Augen drehten. Doch ich lachte nur und rieb mir die schmerzende Beule auf der Stirn.
    Es war Mittag, als ich meine Flugübungen beendete. Erschöpft lag ich auf dem Bett. Ich hatte nichts gegessen und war wegen meines niedrigen Blutzuckerspiegels ganz benommen. Trotzdem – oder gerade deswegen – hatte ich, als ich so unter den Decken lag und es im Keller langsam wärmer wurde, immer noch das Gefühl zu schweben. Ich schloss die Augen und glitt in einen tiefen Schlaf.
     
    Am späten Nachmittag ging ich nach oben, um mir ein Schinkensandwich zu machen. Das Telefon klingelte, ich nahm automatisch ab. Es war mein Bruder.
    »Mom sagt, du würdest ihr nicht helfen«, sagte er.
    »Hallo, Nick. Mir geh’s gut. Und dir?«
    »Außerdem sagt sie, du würdest den ganzen Tag im Keller hocken und fernsehen.«
    »Nicht nur.« Meine Stimme klang defensiver, als mir lieb war. »Wenn du dir solche Sorgen um sie machst, warum kommst du dann nicht mal an einem Wochenende nach Hause und spielst den Handwerker?«
    »Weil man sich im Praktikumsjahr nicht einfach so davonstehlen kann. Ich muss meine freien Tage weit im Voraus planen. Letzte Woche war ich zehn Stunden am Stück in der Notaufnahme. Eigentlich hätte ich längst gehen sollen, aber da kam diese alte Frau, mit Vaginalblutungen …« Ich musste kichern, was er mit einem kurzen Schweigen quittierte. Dann sagte er: »Ich bin eine Stunde länger geblieben, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht. Weißt du, eine solche Erfahrung würde ich mir für dich auch wünschen. Es würde dich über deine kleine Welt hinausheben.«
    »Das krieg ich schon allein hin.«
    »Und wie? Was hast du denn heute getan?«
    »Heute? Heute ist kein normaler Tag. Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich bin … nun ja … hierhin und dorthin geschwebt.« Ich konnte nicht anders – ich musste schon wieder kichern.
    Mein Bruder schwieg wieder für eine Weile. »Eric«, sagte er schließlich, »wenn du dich in freiem Fall befändest – würdest du das überhaupt merken?«
     
    Ich rutschte von der Dachkante wie ein Schwimmer, der vom Rand des Swimmingpools ins Wasser gleitet. Mein Magen revoltierte, meine Kopfhaut prickelte heiß und kalt. Ich rechnete jeden Moment damit, in die Tiefe zu stürzen. Vielleicht war der ganze Morgen, die Rumfliegerei im Keller, ja nur eine Wahnvorstellung gewesen, ein schizophrenes Hirngespinst, und ich war kurz davor, mir sämtliche Knochen zu brechen

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