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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Wusste es, ohne dass ich es ihr je erzählt hätte. Ich konnte fliegen – sie konnte Gedanken lesen.
    »Nicky hat es mir erzählt«, sagte sie, als sie meine Verwirrung bemerkte. »Er hat gesagt, er hat dich fliegen gesehen, nachdem der Ast runterkrachte. Er war sich so sicher, dass er es selbst versucht hat, daher das mit seinem Gesicht. Er hat gesagt, dass er damals verrückt war. Dass ihr beide verrückt wart.«
    »Wann hat er dir das mit seinem Gesicht erzählt?« Meinem Bruder war es nie gelungen, seine Unsicherheit deswegen abzulegen, er wollte nicht, dass die Leute darüber Bescheid wussten.
    Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht mehr.«
    Ich rutschte auf dem Fenstersims herum. »Willst du wissen, wie es ist, zu fliegen?«
    Ihr Blick war glasig, ihr Mund stand offen, sie lächelte benommen. »Wie machst du das? Im Ernst.«
    »Es hat irgendwie mit dem Cape zu tun. Wenn ich es umlege, kann ich fliegen. Das ist alles.«
    Sie berührte mich an der Schläfe. »Was ist das in deinem Gesicht?«
    »Damit fühl ich mich sexy.«
    »Heilige Scheiße, du bist wirklich ein merkwürdiger Kerl. Und ich habe zwei Jahre lang mit dir zusammengelebt!«
    »Willst du fliegen?« Ich glitt in ihr Zimmer und hockte mich auf die Kommode. »Setz dich auf meinen Schoß. Dann drehen wir eine Runde.«
    Sie sah mich an, ihr Lächeln war verschmitzt und misstrauisch zugleich. Durch das Fenster kam ein kalter Wind herein und bauschte das Cape auf. Zitternd blickte sie an sich hinab, wurde sich bewusst, dass sie lediglich Unterwäsche trug. Sie schüttelte den Kopf und nahm das Handtuch von den feuchten Haaren. »Warte einen Moment.« Sie ging zum Schrank und kramte in einem Fach nach Pullover und Hose.
    Vom Fernseher kam unvermittelt ein kläglicher Schrei. Ein Seehund hatte sich in den Nacken eines anderen verbissen, und der Kommentator erklärte, dass dominierende Männchen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchten, sich ihrer Rivalen zu entledigen, jenen, die ihnen den Zugang zu den Weibchen des Rudels streitig machen könnten. Das Blut auf dem Eis sah wie Kirschsaft aus.
    Angie räusperte sich. Als ich zu ihr hochsah, hatte sie die Mundwinkel sichtlich verärgert nach unten gezogen. Manchmal nahm mich eine Fernsehsendung völlig gefangen, selbst wenn sie mich eigentlich überhaupt nicht interessierte. Ich konnte nichts dagegen tun. Es war, als wäre ich negativ und der Fernseher positiv geladen, und zusammen bildeten wir einen geschlossenen Kreislauf. Früher, wenn ich Comics las, war es das Gleiche. Eine Schwäche, zugegeben, aber kein Grund, mich so abschätzig zu mustern wie Angie in diesem Moment.
    Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr und schenkte mir ein rasches, elfenhaftes Lächeln, als hätte sie mir nicht gerade eben den »Blick« zugeworfen.
    Ich lehnte mich zurück, und sie setzte sich unbeholfen auf meinen Schoß. »Warum werde ich das Gefühl nicht los, das ist alles nur ein perverser Streich, damit ich auf deinem Schoß sitze?« Sie kreischte. »Pass auf! Wir werden auf dem Arsch …«
    Ich glitt von der Kommode und geriet ein wenig ins Schlingern. Sie schlang mir die Arme um den Hals und stieß einen weiteren Schrei aus – einen glücklichen, ängstlichen Schrei.
    Ich bin nicht besonders stark, aber ich hob sie ja auch nicht hoch, es war eher so, als säßen wir zusammen in einem unsichtbaren Schaukelstuhl. Allerdings hatte sich nun mein Schwerpunkt verlagert, und ich hatte einige Probleme mit dem Gleichgewicht – wie in einem Kanu, in dem zu viele Leute sitzen.
    Wir schwebten um das Bett herum und dann darüber hinweg. Sie schrie, lachte und schrie wieder. »Das ist das Verrückteste … Mein Gott, das wird mir niemand glauben. Begreifst du, dass du der berühmteste Mensch aller Zeiten sein wirst?« Sie starrte mich an, und ihre Augen leuchteten wie damals, als ich ihr von Alaska erzählt hatte.
    Ich tat so, als wollte ich zur Kommode zurückfliegen, doch dann rauschte ich einfach weiter, zog den Kopf ein und beförderte uns durch das offene Fenster hinaus.
    »Was machst du da? Mein Gott, ist das kalt!« Sie klammerte sich so fest an meinen Hals, das ich kaum atmen konnte.
    Ich nahm Kurs auf die silbern leuchtende Mondsichel. »Dann frierst du eben ein wenig. Ist es das nicht wert? So zu fliegen? Wie in deinen Träumen?«
    »Ja.«
    »Ist das nicht unglaublich?«
    »Ja.«
    Sie zitterte entsetzlich, was ihre Brüste unter dem dünnen Pulli ganz wunderbar zur Geltung brachte. Wir

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