Black CATS - Parrish, L: Black CATS
Warum er zu ihr gekommen war. Es lag nicht nur daran, dass sie mit dem Jungen ein paar E-Mails ausgetauscht hatte. Es steckte viel mehr dahinter.
»Oh mein Gott! Hat etwa derjenige, der ihn betrügen wollte, die beiden umgebracht ?«
Der Agent antwortete nicht, sondern stellte ihr im Gegenzug selbst einige Fragen. »Können Sie sich an irgendetwas aus Ihrem Nachrichtenverkehr mit Ryan Smith erinnern? Hat er – wenn auch nur beiläufig – erwähnt, wohin er an diesem Abend fahren würde oder mit wem er sich treffen wollte ?«
»An diesem Abend ?« , fragte sie zurück und schluckte, als ihr klar wurde, dass sie noch längst nicht alles gehört hatte. »Dem Abend, an dem wir gechattet haben ?«
»Ja .«
Sie taumelte zu ihrem Stuhl und sank auf das Sitzpolster. Wie die meisten Leute las Sam die Zeitung; ihr war bewusst, dass an jedem einzelnen Tag vielen Menschen furchtbare Dinge zustießen. Sie hatte selbst schon Leid erfahren – ihr Vater war bei einem Autounfall gestorben, als sie gerade erst elf gewesen war.
Aber das hier waren Kinder. Nette, freundliche Kinder, deren einzige Fehler Gutgläubigkeit und Treue gewesen waren. Kinder, die am Grund eines zugefrorenen Sees geendet waren – sie würden nie auf ihrem eigenen Abschlussball tanzen oder aufs College gehen, würden nie die Frau ihres Lebens treffen und heiraten. All diese Chancen – für immer verloren.
Und wenn Sam nicht wegen eines Laibes Brot, einer Packung Milch und ein bisschen blöder Eiscreme zum Supermarkt gegangen, sondern zu Hause gewesen wäre und Ryan Smith zurückgeschrieben hätte, dann wären sie heute vielleicht noch am Leben.
»Es gibt nichts, was Sie hätten tun können « , sagte Lambert. Er stellte sich hinter sie, aber sie drehte sich nicht um – auch nicht, als er ihr die Hand auf die Schulter legte.
Das war das erste Mal seit fast einem Jahr, dass ein Mann sie zärtlich berührte.
Sogar Onkel Nate – der Polizeipartner ihres verstorbenen Vaters, mit dem ihre Mutter alles teilte außer ihrem Liebesleben – schüttelte Sam einfach nur die Hand, wenn sie sich trafen. Als hätte er die innere Mauer wahrgenommen, die sie zwischen sich und der Männerwelt hochgezogen hatte.
Dieser Agent hatte die Mauer nicht bemerkt. Sam wurde mit einem Mal ziemlich schweigsam und versuchte festzustellen, was das in ihr auslöste.
Immer wenn sie sich ihre nächste Begegnung mit dem männlichen Geschlecht vorgestellt hatte, waren das die typischen Tagträume einer geschiedenen Frau gewesen. Ein zufälliges Aufeinandertreffen mit ihrem Ex und seiner Tussi, während sie Arm in Arm mit Ashton Kutcher auf der einen und Johnny Depp auf der anderen Seite lief. So etwas wäre gut. Nicht das hier. Nicht die tröstende Hand eines völlig Fremden auf ihrer Schulter.
Andererseits hätte sie sich auch in ihren schwärzesten Momenten niemals träumen lassen, dass sie einmal in eine Ermittlung zu einem Doppelmord verwickelt werden würde oder dass ihr wegen eines freundlichen Jungen, den sie kaum gekannt hatte, das Herz bluten würde.
»Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe « , sagte der Agent, während seine Hand immer noch schwer und warm auf ihrer Schulter ruhte. »Der Täter hat den Betrug sehr glaubhaft aufgezogen. Ich glaube, dass der andere Junge auf jeden Fall hingefahren wäre, egal was Sie gesagt hätten. Und Ryan wäre mitgekommen. So lief das bei den beiden einfach .«
Sie nickte, dankbar für seine Worte, die, wie sie wusste, zutreffen konnten. Mit ihrer besten Freundin Tricia ging sie selbst auch durch dick und dünn. Sie würden alles füreinander tun. Vielleicht hätte es also wirklich nichts geändert, wenn Sam zu Hause gewesen wäre und versucht hätte, Ryan im Chat davon zu überzeugen, dass er seinem Freund lieber nicht folgte.
Vielleicht aber doch.
»Alles in Ordnung ?«
Sam verdrängte die düstere Vorstellung vom Todeskampf der beiden Jungen. Umso deutlicher nahm sie den Druck der starken Hand des Mannes wahr, die auf ihrer Schulter lag. Die Berührung wirkte nicht im Mindesten unangemessen oder bedrohlich. Dennoch, dieser Mann war ein Fremder. Außerdem hatte sie sich während der letzten Monate immer wieder eingeschärft, sich nie wieder einem Mann anzuvertrauen.
Trotzdem fühlte sich dieses kleine bisschen zwischenmenschlicher Kontakt angenehm an. Sehr angenehm.
Bevor sie irgendetwas sagen konnte, drang ein lautes Klopfen von der Wohnungstür zur Küche herüber. Den Bruchteil einer Sekunde später klopfte es noch einmal.
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