Black Dagger 04 - Bruderkrieg
ich bin froh, dass du mich damals nicht gekannt hast.«
»Das ging zwanzig, dreißig Jahre so. Ich war ein Pulverfass, jeden Moment hätte ich hochgehen können. Und natürlich hab ich eine Frau kennen gelernt. Ich begehrte
sie, aber sie hielt mich auf Abstand. Je mehr sie mir auswich, desto mehr wollte ich sie haben. Aber erst als ich in die Bruderschaft aufgenommen wurde, wurde sie zugänglicher. Waffen turnten sie an. Krieger turnten sie an. Sie wollte nur mit Brüdern zusammen sein. Eines Nachts nahm ich sie mit in den Wald und zeigte ihr meine Dolche und meine Schießeisen. Sie spielte mit meinem Gewehr. Gott, ich weiß noch genau, wie das Gerät in ihrer Hand aussah, es war eines dieser Steinschlossgewehre, wie sie im neunzehnten Jahrhundert hergestellt wurden.«
Im neunzehnten Jahrhundert? Um Himmels willen, wie alt ist er denn?, überlegte Mary.
»Jedenfalls ging das Ding in ihrer Hand los, und ich hörte etwas auf dem Boden aufschlagen. Es war eine Schleiereule. Eine dieser wunderschönen weißen Schleiereulen. Ich sehe immer noch die roten Flecken vor mir, als das Blut durch die Federn sickerte. Als ich den Vogel aufhob und das zarte Gewicht in meinen Händen spürte, begriff ich, dass Leichtsinn auch eine Form von Grausamkeit ist. Weißt du, ich hatte mir immer eingeredet, dass alles, was geschah, nicht meine Schuld war, solange ich keine bösen Absichten hatte. In jenem Augenblick aber verstand ich, dass das nicht stimmte. Hätte ich der Frau nicht mein Gewehr gegeben, wäre der Vogel nicht erschossen worden. Ich war dafür verantwortlich, auch wenn ich nicht selbst den Abzug gedrückt hatte.«
Er räusperte sich. »Die Eule war so ein unschuldiges Wesen. So zerbrechlich und klein im Vergleich zu mir. Sie blutete und starb vor meinen Augen. Ich fühlte mich schrecklich und überlegte gerade, wo ich das Tier begraben sollte, da kam die Jungfrau der Schrift zu mir. Sie tobte. Wirklich, sie tobte. Zum einen liebt sie Vögel, und die Schleiereule ist ihr heiliges Symbol. Aber natürlich ging es nur zum Teil um den Tod dieses Tiers. Sie nahm mir den Vogel aus den
Händen, hauchte ihm wieder Leben ein und schickte ihn in den Nachthimmel. Es war eine solche Erleichterung, ihn davonfliegen zu sehen. Wie ein Neuanfang. Ich war frei, gereinigt. Doch dann wandte sich die Jungfrau der Schrift mir zu. Sie verfluchte mich, und seither bricht jedes Mal, wenn ich die Beherrschung verliere, die Bestie aus mir hervor. Eigentlich ist es eine perfekte Strafe für mich. Sie hat mir beigebracht, meine Energie zu kanalisieren, und meine Stimmungen. Sie hat mir beigebracht, die Konsequenzen meiner Handlungen zu respektieren. Und hat mir geholfen, die Kraft in meinem Körper auf eine Art und Weise zu begreifen, die sonst niemals möglich gewesen wäre.«
Er lachte kurz auf. »Die Jungfrau der Schrift hasst mich, aber sie hat mir auch einen großen Gefallen getan. Wie dem auch sei … so ist das alles gekommen. Ich habe einen Vogel getötet und dafür die Bestie bekommen. Einerseits ganz einfach und andererseits ziemlich kompliziert, was?«
Rhages Brustkorb dehnte sich weit aus, als er tief Luft holte. Sie konnte seine Reue so deutlich spüren, als wäre es ihre eigene.
»Einerseits, andererseits«, murmelte sie und streichelte seine Schulter.
»Die gute Nachricht ist, dass es in ungefähr einundneunzig Jahren vorbei ist.« Er runzelte die Stirn, als stellte er sich das bildlich vor. »Dann ist die Bestie weg.«
Seltsamerweise wirkte er etwas besorgt.
»Du wirst sie vermissen, stimmt’s?«
»Nein. Nein, ich … werde erleichtert sein. Wirklich.«
Aber seine Stirn wollte sich nicht wieder glätten.
25
Gegen neun Uhr am nächsten Morgen räkelte Rhage sich im Bett und stellte erstaunt fest, dass er wieder ganz der Alte war. Noch nie hatte er sich so schnell erholt; er hatte das Gefühl, es lag daran, dass er sich nicht gegen die Verwandlung gewehrt hatte. Vielleicht war das der Trick: das Spiel einfach mitzuspielen.
Mary kam mit einem Berg von Handtüchern aus dem Badezimmer und trug sie in die Wäschetonne. Sie wirkte müde und niedergeschlagen. Was kein Wunder war. Sie hatten den Großteil des Morgens damit verbracht, über Bella zu sprechen. Und obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, sie zu beruhigen, wussten sie doch beide, dass die Lage ernst war.
Und dann gab es noch einen Grund zur Sorge.
»Ich möchte heute mit zum Arzt kommen«, sagte er.
Sie steckte den Kopf herein. »Du bist ja wach.«
»Ja. Und ich
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