Black Dagger 04 - Bruderkrieg
Fensterbank.
Sie und Rhage setzten sich, und die Ärztin ging hinter ihren Schreibtisch.
Noch bevor sie sich auf ihrem Stuhl niedergelassen hatte, fragte Mary: »Also, was geben Sie mir, und wie viel kann ich vertragen?«
Dr. Della Croces Blick wanderte über all die Krankenblätter
und die Stifte und die Klarsichthüllen und das Telefon.
»Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen und noch mit zwei weiteren Spezialisten. Wir haben Ihre Akten alle noch einmal durchgearbeitet und die Ergebnisse der gestrigen –«
»Davon gehe ich aus. Aber jetzt sagen Sie mir, wo wir stehen.«
Die Frau nahm ihre Brille ab und atmete tief ein.
»Ich glaube, Sie sollten Ihre Angelegenheiten regeln, Mary. Wir können nichts mehr für Sie tun.«
Um halb fünf Uhr morgens verließ Rhage völlig benommen das Krankenhaus. Niemals hätte er erwartet, das Krankenhaus ohne Mary zu verlassen.
Man hatte sie dabehalten, um ihr eine Bluttransfusion zu geben, und außerdem, weil die nächtlichen Fieberanfälle und die Erschöpfung offenbar die Vorboten einer Bauchspeicheldrüsenentzündung waren. Wenn ihr Zustand sich besserte, würde sie am nächsten Morgen entlassen. Aber niemand wollte sich festlegen.
Der Krebs schritt schnell voran: innerhalb der kurzen Zeit zwischen ihrem vierteljährlichen Check-up und dem Bluttest vom vorigen Tag hatten sich die Krebszellen verdoppelt. Und Dr. Della Croce und alle Spezialisten waren sich einig: Wegen der Behandlungen, die Mary schon hatte über sich ergehen lassen müssen, konnten sie ihr keine weitere Chemotherapie verabreichen. Ihre Leber war am Ende und konnte die chemische Keule einfach nicht mehr verkraften.
Mein Gott. Er hatte sich auf einen höllischen Kampf eingestellt. Und auf viel Leiden, bei dem er an ihrer Seite sein wollte. Aber niemals auf den Tod. Und nicht so schnell.
Sie hatten nur noch wenige Monate. Frühling. Vielleicht bis zum Sommer.
Rhage materialisierte sich im Hof des Haupthauses und machte sich auf den Weg zur Höhle. Er konnte es nicht ertragen, allein in ihr gemeinsames Zimmer zu gehen. Noch nicht.
Doch als er vor Butch und Vs Tür stand, klopfte er nicht. Sondern blickte über die Schulter zur Front des großen Hauses und dachte daran, wie Mary dort die Vögel gefüttert hatte. Er stellte sie sich vor, dort auf den Stufen, mit diesem zauberhaften Lächeln auf dem Gesicht und dem Sonnenlicht im Haar.
Was sollte er nur ohne sie anfangen?
Er dachte an die Kraft und die Entschlossenheit in ihren Augen, nachdem er sich vor ihren Augen bei einer fremden Frau genährt hatte. Daran, wie sie ihn geliebt hatte, obwohl sie die Bestie kannte. An ihre ruhige, bestechende Schönheit und ihr Lachen und ihre grauen Augen.
Aber am meisten dachte er daran, wie sie in jener Nacht aus Bellas Haus gerannt war, auf nackten Füßen, und sich ihm in die Arme geworfen, geschluchzt hatte … als sie ihn endlich um Hilfe gebeten hatte.
Er spürte etwas auf dem Gesicht.
Verdammt. Weinte er etwa?
Ohne Zweifel.
Und es war ihm gleichgültig, dass er weich wurde.
Er blickte auf den Kies in der Auffahrt und stellte verblüfft fest, dass die Steine im Flutlicht sehr weiß aussahen. Genau wie die mit Stuck verzierte Mauer um den Hof. Und der Springbrunnen in der Mitte, dessen Wasser für den Winter abgelassen worden war –
Er erstarrte. Dann hoben sich seine Augenlider.
Langsam drehte er sich zum Haus um und hob den Kopf zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer.
Von einem plötzlichen Vorsatz wie elektrisiert rannte er, so schnell ihn seine Füße trugen, in die Eingangshalle.
Mary lag in ihrem Krankenhausbett und versuchte, Butch anzulächeln, der mit Hut und Sonnenbrille in der gegenüberliegenden Ecke saß. Er hatte Rhage abgelöst, um sie bis zum Einbruch der Nacht zu bewachen und zu beschützen.
»Du musst dich nicht um mich kümmern«, sagte Butch sanft, als wüsste er, dass sie höflich sein wollte. »Mach einfach das, was du tun möchtest.«
Sie nickte und blickte aus dem Fenster. Die Kanüle in ihrem Arm war nicht so schlimm; es tat nicht weh. Andererseits fühlte sie sich so betäubt, dass man ihr wahrscheinlich Nägel in die Venen hätte hämmern können, und sie hätte nichts gespürt.
Verfluchter Mist. Das Ende war gekommen. Die unausweichliche Realität des Sterbens lag vor ihr. Dieses Mal gab es kein Hintertürchen.
Nichts, was man tun, keine Schlacht, in die man ziehen konnte. Der Tod war nicht länger eine abstrakte Vorstellung, sondern ein sehr greifbares, nahe
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