Black Dagger 07 - Menschenkind
hoch und rieb sich die Augen, eine Geste, die er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, wenn ihm die Bürde, König zu sein, zu schwer wurde. »Wenn er befragt wurde, hat er vielleicht geredet. Wir könnten in Gefahr geraten.«
V sah in sein Glas und schüttelte langsam den Kopf. »Er würde eher sterben, als uns aufzugeben. Das garantiere ich euch.« Er schluckte den Wodka und spürte, wie er brennend seine Kehle hinunterlief. »Er ist mein Freund, und ich verlasse mich auf ihn.«
5
Rehvenge hatte kein bisschen überrascht gewirkt, als sie ihn angerufen hatte, dachte Marissa. Andererseits hatte er sie schon immer auf eine unheimliche Art und Weise durchschauen können.
Ihren schwarzen Umhang zusammenraffend trat sie durch die Hintertür des Hauses ihres Bruders. Die Nacht war eben erst angebrochen, und sie zitterte, allerdings nicht wegen der Kälte. Es lag an diesem grauenhaften Traum, den sie tagsüber gehabt hatte. Sie war geflogen, über die Landschaft, über einen gefrorenen Teich, der von Kiefern gesäumt wurde, dann weiter an einem Ring von Bäumen vorbei, bis sie schließlich langsamer geworden war und nach unten gespäht hatte. Dort, auf dem verschneiten Boden, zusammengerollt und blutend, hatte sie … Butch entdeckt.
Der Drang, die Bruderschaft anzurufen, verließ sie ebenso wenig wie die Bilder des Alptraums. Aber wie albern würde sie sich vorkommen, wenn die Brüder genervt zurückriefen,
bloß um ihr mitzuteilen, dass mit Butch alles völlig in Ordnung war? Wahrscheinlich würden sie denken, dass sie ihm nachstieg. Aber dennoch … diese Vision von ihm war eine Heimsuchung, wie er blutend auf der weißen Erde lag, hilflos zusammengekauert wie ein Embryo.
Es war doch nur ein Traum. Lediglich … ein Traum.
Sie schloss die Augen, zwang sich zu äußerlicher Gelassenheit und dematerialisierte sich. Ihr Ziel war die Stadt, eine Penthouseterrasse im dreißigsten Stock. Sobald sie wieder Gestalt annahm, schob Rehvenge eine der sechs Glastüren auf.
Sofort runzelte er die Stirn. »Du bist beunruhigt.«
Mühsam brachte sie ein Lächeln zustande, während sie auf ihn zuging. »Du weißt doch, dass ich mich immer etwas unbehaglich fühle.«
Er deutete mit seinem gravierten Stock auf sie. »Nein, heute ist es anders.«
Noch nie hatte sie jemanden gekannt, der ihre Gefühle so gut zu lesen verstand. »Es geht schon.«
Als er sie am Ellbogen fasste und ins Zimmer zog, wurde sie von einer tropischen Wärme umhüllt. Bei Rehv war es immer warm, und trotzdem behielt er den bodenlangen Zobelmantel stets so lange an, bis sie bei der Couch ankamen. Sie hatte keine Ahnung, wie er diese Hitze aushielt, aber er schien förmlich danach zu lechzen.
Jetzt schloss er die Schiebetür. »Marissa, ich möchte wissen, was los ist.«
»Nichts, ehrlich.«
Mit einer Drehung legte sie den Umhang ab und drapierte ihn auf einem Chromstuhl. Drei Seiten des Penthouses wurden von Glasfronten eingenommen, und der ausgedehnte Blick über Caldwell zeigte die schimmernden Lichter der Innenstadt, die dunkle Biegung des Hudson River, und die Sterne, die über allem leuchteten. Doch im Gegensatz
zu der glitzernden Landschaft vor den Fenstern war die Inneneinrichtung minimalistisch, viel Ebenholz und cremeweiße Eleganz. Elegant wie Rehv selbst, mit seinem schwarzen Irokesenschnitt, der goldenen Haut und den perfekten Kleidern.
Unter anderen Umständen hätte sie das Penthouse begeistert.
Unter anderen Umständen wäre sie vielleicht auch von dem Besitzer begeistert gewesen.
Rehvs violette Augen verengten sich, er stützte sich auf seinen Stock und kam auf sie zu. Er war sehr groß, hatte eine Statur wie ein Mitglied der Bruderschaft. Doch jetzt wirkte er finster, das attraktive Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen. »Lüg mich nicht an.«
Sie musste lächeln. Vampire wie er neigten zu einem ausgeprägten Beschützerinstinkt, und wenn auch sie beide nicht miteinander vereint waren, so überraschte es sie doch nicht, dass er bereitwillig um ihretwillen kämpfen würde. »Ich hatte nur einen verstörenden Traum heute Morgen, der mich noch nicht ganz losgelassen hat. Das ist alles.«
Er musterte sie, und in ihr stieg ein merkwürdiges Gefühl auf, so als erforsche er sie, erkunde ihr Inneres, ihre Emotionen.
»Gib mir deine Hand«, forderte er sie auf.
Ohne zu zögern, gehorchte sie. Immerhin befolgte er die Gepflogenheiten der Glymera, und er hatte sie noch nicht so begrüßt, wie es der Brauch erforderte. Doch als
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