Black Dagger 10 - Todesfluch
und legte sich eine Hand auf den Unterleib. Sie war fruchtbar, wie alle Auserwählten zu jeder Zeit auf dieser Seite. Sie könnte bei ihrem allerersten Mal mit dem Primal schon ein Kind von ihm empfangen. Gütige Jungfrau im Schleier, warum nur hatte man sie erwählt?
Als sie den Kopf wieder zurückwandte, hatte die Directrix den Fuß des Hügels erreicht – so klein im Vergleich zu den hoch aufragenden Gebäuden, so gewaltig im täglichen Leben. Mehr als alle und alles andere bestimmte sie die Landschaft: Die Jungfrau der Schrift war es, der sie alle dienten; doch es war die Directrix, die über das Leben aller befahl. Zumindest so lange, bis der Primal eintreffen würde.
Die Directrix wollte diesen Mann nicht in ihrer Welt, dachte Cormia.
Und genau das war der Grund gewesen, warum Cormia der Jungfrau der Schrift als Kandidatin vorgeschlagen worden war. Von allen Vampirinnen, die zur Verfügung standen und die entzückt gewesen wären, zeigte sie sich am wenigsten gefällig, am wenigsten entgegenkommend. Ihre Wahl war eine Demonstration des Unwillens gegen den Wechsel in der Vormachtstellung.
Cormia trat den Weg von der Kuppel herunter an, die weiße Grasfläche besaß keine eigene Temperatur unter ihren bloßen Füßen. Nichts außer Essen und Trinken verfügte über Hitze oder Kälte.
Einen flüchtigen Augenblick dachte sie an Flucht. Besser von allem Vertrauten entfernt zu sein, als das zu ertragen, was die Directrix ihr in Aussicht gestellt hatte. Doch ihr mangelte das Wissen, wie man auf die Abgewandte Seite gelangte. Sie wusste, man musste das Innere der privaten Gemächer der Jungfrau der Schrift passieren, doch was dann? Und was, wenn sie von Ihrer Heiligkeit ertappt würde?
Undenkbar. Noch furchteinflößender als die Zusammenkunft mit dem Primal.
Tief versunken in ihre persönlichen, sündhaften Gedanken spazierte Cormia durch die Landschaft, die sie schon ihr gesamtes Leben lang kannte. Man konnte sich auf diesem Gelände leicht verlaufen, da alles gleich aussah und
sich gleich anfühlte und gleich roch. Ohne Gegensätze verliefen die Kanten der Wirklichkeit zu glatt, um sich daran festzuklammern, weder physisch noch psychisch. Man war nie geerdet, leicht wie Luft.
Als sie an der Schatzkammer vorbeikam, blieb sie vor den herrschaftlichen Stufen stehen und dachte an die Juwelen darin, die einzig wahren Farben, die sie je erblickt hatte. Jenseits der versperrten Türen gab es ganze Körbe voller Edelsteine, und wenn sie diese auch erst ein oder zwei Mal gesehen hatte, erinnerte sie sich doch ganz deutlich an die Farben. Ihre Augen waren geblendet gewesen von dem lebendigen Blau der Saphire und dem tiefen Grün der Smaragde und der Blutkraft der Rubine. Die Aquamarine hatten die Farbe des Himmels aufgewiesen, daher waren sie ihr weniger fesselnd erschienen.
Ihre Lieblingssteine waren die Zitrine gewesen, die wundervollen gelben Zitrine. Heimlich hatte sie einen davon berührt. Nur ein rasches Ausstrecken ihrer Hand, als niemand aufgepasst hatte, doch o, wie herrlich war das flackernde Licht in seinen fröhlichen Facetten gewesen. Die Steine in der Handfläche zu spüren, hatte eine Zufriedenheit in ihr ausgelöst wie eine anregende Unterhaltung, ein schwärmerischer Rausch der Sinne, der durch das Verbotene ihrer Tat noch an Bedeutung gewonnen hatte.
Die Steine hatten sie gewärmt, wenngleich sie doch in Wahrheit nicht wärmer waren als irgendein anderer Gegenstand.
Und die Juwelen waren nicht der einzige Grund, warum der Eintritt in die Schatzkammer solch ein außergewöhnliches Vergnügen darstellte. In Vitrinen wurden Objekte der Anderen Seite aufbewahrt, Dinge, die entweder gesammelt wurden, weil sie eine zentrale Rolle in der Geschichte ihrer Art spielten, oder weil sie in den Besitz der Auserwählten
gelangt waren. Nicht immer hatte Cormia erkannt, was sie da betrachtete, doch es war eine Offenbarung gewesen. Farben. Strukturen. Fremde Gegenstände von einem fremden Ort.
Merkwürdigerweise hatte sie sich jedoch am meisten von einem uralten Buch angezogen gefühlt. Auf dem zerschlissenen Einband hatte sie in undeutlich geprägten Lettern gelesen: DARIUS, SOHN DES MARKLON.
Cormia runzelte die Stirn und stellte fest, dass sie diesen Namen schon einmal gelesen hatte … in dem Raum der Bibliothek, welcher der Bruderschaft der Black Dagger gewidmet war.
Das Tagebuch eines Bruders. Daher also war es aufbewahrt worden.
Sie wünschte, sie wäre schon damals – in den vergangenen Zeiten –
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