Black Dagger 20 - Schattentraum
auf Tohr zu.
Und wie aus dem Nichts brach ein zweiter Lichtstrahl durch die Decke …
Aber er richtete sich nicht auf Lassiter. Er richtete sich … auf sie.
Mit einem Schlag hatte Lassiter begriffen: Autumn war vor langer Zeit gestorben. Durch eigene Hand …
Das Zwischenreich. Für jeden anders. Maßgeschneidert.
Die Geschehnisse liefen wie in Zeitlupe ab, als er die zweite Wahrheit erkannte: Autumn war die ganze Zeit über in ihrem eigenen Zwischenreich gewesen. Sie war zum Heiligtum gelangt, wo sie all die Jahre den Auserwählten diente, dann war sie auf die Erde gekommen, um den Kreis zu schließen, der im Alten Land mit Tohrment begonnen hatte.
Jetzt, da sie ihm geholfen hatte, seine Shellan zu befreien … jetzt, da sie ihre Gefühle für ihn zuließ und die Trauer über ihr eigenes Unglück überwunden hatte …
Jetzt war sie frei. Genau wie Wellsie.
Ach du Scheiße! Tohr würde ein weiteres Mal seine Liebe verlieren …
»N ein!«, schrie Lassiter. »N eeein!«
Als er aus der Reihe brach und nach vorne stürzte, um das Zusammentreffen der beiden zu verhindern, ertönten Rufe, und jemand packte ihn, als wollte er ihn davon abhalten, den beiden in die Quere zu kommen. Aber es spielte ohnehin keine Rolle mehr.
Es war zu spät.
Denn die beiden mussten sich gar nicht berühren. Die Liebe war da, ebenso wie die Vergebung für Fehltritte der Vergangenheit und Gegenwart, ebenso wie die Bereitschaft ihrer Herzen, sich aufeinander einzulassen.
Lassiter war mitten im Sprung, als ein dritter Lichtstrahl ihn im Flug auffing und dem Geschehen entriss. Und so wurde er nach oben gezogen, obwohl er noch immer schreiend die Grausamkeit des Schicksals beklagte.
Denn all seine Bemühungen und sein Bestreben hatten in einer neuerlichen Tragödie für Tohr gegipfelt.
39
In Wirklichkeit hatte Autumn nicht gewusst, ob sie sich ins Haus der Bruderschaft begeben würde – bis sie es tat. Und sie hatte nicht gewusst, wie es ihr mit Tohrment ergehen würde … bis sie sah, wie sein Blick über die Versammelten schweifte, und sie wusste, dass er nach ihr suchte. Doch sie öffnete ihr Herz noch nicht ganz für ihn … bis er die Hand nach ihr ausstreckte und die Kontrolle genau in dem Moment verlor, als sich ihre Blicke trafen.
Sie hatte ihn schon davor geliebt – oder hatte es zumindest geglaubt.
Aber es hatte noch etwas Entscheidendes gefehlt: das Gefühl nämlich, nicht als eine Unwürdige geliebt zu werden, die es zu bestrafen galt, sondern als ein Individuum von Wert, das ein Leben jenseits der Tragödie leben konnte, die es so lange bestimmt hatte.
Als sie auf ihn zutrat, tat sie das nicht als Dienerin oder Magd, sondern als Frau von Wert … eine, die zu ihrem Mann gehen, ihn umarmen würde und mit ihm verbunden wäre, solange es der Jungfrau der Schrift gefiel.
Nur, dass sie nie dort ankam.
Sie hatte die Eingangshalle noch nicht einmal zur Hälfte durchquert, als sie von einer gewaltigen Macht ergriffen wurde. Sie konnte nicht begreifen, was da über sie kam: Gerade noch war sie auf Tohr zugelaufen und folgte seinem stillen Flehen, zu ihm zu kommen, schritt durch den Raum in Richtung des Vampirs, den sie liebte …
Und dann umfing sie plötzlich ein grelles Licht aus unbekannter Quelle und hielt sie fest.
Ihr Wille befahl ihrem Körper, weiter auf Tohr zuzugehen, aber eine übermächtige Gewalt hielt sie umklammert und nahm sie mit sich fort: Ein Sog, so unentrinnbar wie die Erdanziehungskraft, zog sie nach oben, fort von der Erde, hoch ins Licht. Als sie in die Luft gehoben wurde, hörte sie Lassiter schreien und sah ihn auf sich zustürzen, als wollte er es verhindern …
Das war es, was ihr die Kraft gab, gegen den Sog anzukämpfen. Sie wehrte sich wie wild, kämpfte mit allem, was sie hatte, aber es war unmöglich, sich von dieser Macht zu befreien: Sosehr sie sich mühte, sie konnte ihren Aufstieg nicht verhindern.
Unter ihr brach Chaos aus, Leute rannten durcheinander, während Tohr sich mühsam aufrappelte. Als er sie ansah, glich sein Gesicht einer Maske aus Verwunderung und Unglauben – und dann begann er zu springen, als wollte er sie einfangen, als wäre sie ein Ballon, dessen Schnur er zu fassen versuchte. Jemand fing ihn auf, als er das Gleichgewicht verlor – John. Der Primal eilte zu ihm. Und seine Brüder …
Das Letzte, was sie sah, war kein Bruder, nicht einmal Tohrment, sondern Lassiter.
Der Engel schwebte neben ihr, auch er stieg auf, das Licht verschluckte sie beide, bis er
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