Black Mandel
Baums entlang und durch die Buchstaben hindurch wand sich eine Schlange oder ein Drache. Ich muss wahrscheinlich kurz eingeschlafen sein, denn als ich wieder auf die Uhr sah, war es fast neun, und ich saß immer noch auf dem Klodeckel vor der Schlange. Um meine Betrunkenheit zu vertuschen, schritt ich vorsichtig und betont beiläufig zurück an den Tresen, wo der Mandel mit Vilde in ein intensives Gespräch vertieft war. Sie hatte ihren Arm um seine Hüfte gelegt, und er fuhr ihr mit der Hand durchs Haar.
»Das Konzert. Die gekreuzigten Jungfrauen. Mein Artikel«, lallte ich. Der Mandel legte den anderen Arm um mich und sagte laut:
»Sigi ist mein bester Freund.«
Und er lachte, und Vilde lachte mit, und ich lachte dann auch, und der Mandel bestellte noch drei Aquavit. Was für eine schöne Frau, was für eine freundliche Person, was für Pausbacken, dachte ich noch.
Ich fiel aus dem Regal. Auf dem Boden lagen jede Menge Bücher, die offensichtlich jemand ausgeräumt hatte, bevor ich mich darin zur Nachtruhe gebettet hatte. Ich fiel nicht allzu tief, höchstens einen Meter. Es tat dennoch weh, auf den Büchern zu landen. Die Bücher waren ausschließlich auf Norwegisch. Religion innenfor fornuftens grenser von Kant lag da, und mein Kopf schmerzte. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kant, Kant, Kant. Ich erinnerte mich an die Gespräche früher mit dem Mandel in der Uni-Cafeteria. Die mit dem scheußlichen Automatenkaffee. Nur der Kaffee von der Mordkommission in der Keithstraße ist eine noch größere Gemeinheit. Ich erinnerte mich an unsere gemeinsame Wut auf den Katholizismus. Der Mandel hatte damals für eine Vernunftreligion plädiert. Ich war der Meinung gewesen, dass eine Religion an sich eine gemeingefährliche Unterdrückung darstellt, genau wie jeder Sportverein, jede Clique und vielleicht sogar die Familie. Der Mandel hat behauptet, dass das Vieh da draußen eine Leitlinie braucht, eine Art elektrischen Zaun der Moral. Eine totale geistige Freiheit könne man der Mehrheit der Menschen nicht zumuten, sonst gebe es eine Stampede. Da reiche aber eine Philosophie, habe ich entgegnet. Aber einer Philosophie fehle das Spektakuläre, die Pauken und die Trompeten, hat der Mandel gesagt. Neben Kant lag Bret Easton Ellis. Außerdem hatte ich mir über Nacht den schlimmsten Schnupfen der Welt geholt, ich bekam nicht die geringste Luft durch die Nase. Ich stand mit einiger Mühe von dem Bücherstapel auf und benutzte dabei das Regal als Stütze. Dabei fiel mir auf, dass meine Hände voll schwarzer Schmiere waren und das Regal jetzt auch. Das Zimmer wirkte freundlich. Bunte Vorhänge und Möbel aus hellem Holz. Eine breite, mit hellblauem Stoff überzogene Couch, die unter dem Fenster stand, und ein langes, breites, weißes Regal mit Büchern, abzüglich derer, die über Nacht mir hatten weichen müssen. Es roch nach Bierdunst und Gras. Auf dem Tisch standen etliche Bierflaschen, und im Aschenbecher lagen mindestens drei abgebrannte Joints. Auf dem Boden neben der Couch schlief ein Mann mit kurzen hellbraunen Haaren. Sein Gesicht war weiß angemalt und die Augen schwarz umrandet. Eine Tür aus dem Wohnzimmer hinaus war verschlossen, die andere zum Flur war angelehnt. Ich suchte das Badezimmer. Im Spiegel blickte mir ein Panda entgegen. Ich war weiß angemalt und die Augenpartie komplett geschwärzt. Ich wusch mir das Gesicht und die Hände, aber ausgefranste schwarze Ränder um die Augen blieben. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, öffnete Vilde gerade ein Fenster. Sie trug ein weißes T-Shirt und vielleicht noch eine Unterhose darunter. Sie sah aus wie das personifizierte Leben.
»God morgen!«, sagte Vilde und lächelte mich an. Unten, an ihren nackten Beinen, erwachte der Mann mit dem weißen Gesicht. Vilde lachte laut und sagte irgendetwas auf Norwegisch zu ihm. Er sah genervt aus.
»Du und Håvard, ihr habt noch Spaß gehabt?«, fragte Vilde.
»Das mit den Büchern tut mir leid. Und die Flecken auf dem Regal auch«, sagte ich, aber Vilde winkte lächelnd ab und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Sie zog die Tür hinter sich zu. Ich setzte mich zu Håvard, der sich mittlerweile auf die Couch hochgezogen hatte.
»Warum sehen wir so aus?«, fragte ich ihn.
»Wir haben diskutiert«, sagte Håvard.
»Und deshalb haben wir uns geschminkt?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Håvard, ohne mich anzusehen.
»Und wo ist die Schminke her?«, wollte ich wissen.
»Ich habe sie von meinem Bruder
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