Black Monday
zu fragen, ob er bereit ist, Lebensmittel gegen Heizöl zu tauschen«, sagt Marisa.
»Ich traue ihm nicht«, antwortet er. Das langsame Tempo beunruhigt ihn.
»Niemand traut ihm. Aber Grace ist krank. Die Klines sind krank. Wir brauchen etwas zu essen, Greg.«
Wird der Zug stehen bleiben?
Der Lokführer beantwortet Gerards Frage mit einer weiteren Durchsage: »Ich habe gute Neuigkeiten für alle, denen aufgefallen ist, dass wir langsamer fahren. Zwar wütet ein schlimmer Schneesturm«, fährt er fort, »aber die Leute von Amtrak haben sich was Geniales einfallen lassen, wie sie die Schienen freibekommen. Sie haben eine Dampflok aus dem Smithsonian Museum geholt und vorne einen Schneepflug anmontiert. Außerdem haben sie ein paar Zentner Kohle aufgetrieben. Jetzt räumt der Schneepflug die Strecke zwischen Washington und Baltimore. Wenn wir Glück haben, kommen wir sogar pünktlich an.«
Die Welt zerfällt in Inseln. Sie kehrt zurück in eine Zeit, als es noch keine Städte und Staaten gab. Soziale Gefüge drehen sich um winzige Grundstücksareale, von denen jeder heiß umkämpfte Quadratmeter von Angehörigen der »Bürgerwehr« geschützt wird.
Meine Familie wird überleben, egal was es mich kostet.
»Wo sind die Kinder?«, fragt er Marisa.
»Die sind bei der Mittagspredigt. Wir haben einen neuen Pastor hier, Bartholomew Young. Ein guter Redner. Ein echter Gewinn.«
»Ich möchte euch von der Wüste erzählen, die die Israeliten durchquert haben«, sagt Pastor Young. Er zitiert seinen Ururgroßvater. »Die Wüste ist nackt, der Himmel darüber teilnahmslos. Tagsüber schmorten die Israeliten unter der sengenden Sonne, und nachts fühlten sie sich angesichts der Stille der unzähligen Sterne beschämt in ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit.«
Vom Podium aus blickt er in ein Meer aus ihm zugewandten Gesichtern. Seine Zuhörer sehnen sich nach Trost, Ablenkung, Weisheit – und Kürze.
Die Gerard-Kinder sitzen auf dem Boden neben Chris Van Horne. Wenn Pastor Young in seinem Vortrag innehält, ist überall Schniefen, Husten und Weinen zu hören. Draußen heult der Wind.
»Die Israeliten waren eine hungernde Armee.«
Paulo hockt ungeduldig neben Annie, bereit, aufzuspringen, sobald die Predigt zu Ende ist. Aber selbst die beiden reagieren auf die Stimme der Erinnerung, sie spüren, dass irgendetwas passiert. Was nehmen sie an ihm wahr, dass sie so gefesselt sind? Wahrheit? Leiden? Schicksalhaftigkeit?
»In der Wüste«, fährt Pastor Young fort, »braucht man Orientierung. Man braucht Klarheit. Man braucht Gott.«
Er erinnert sich an den Gestank im Flüchtlingslager, an den Geruch von ungewaschenen Menschen und Müllbergen. Wenn man etwas zu essen haben wollte, musste man den Männern in Schwarz und den Männern mit Scheitelkäppchen zuhören, die aus der Bibel oder aus dem Koran zitierten. Aber die Botschaft war immer dieselbe. Wenn du essen willst, hör zu. Wenn du Wasser willst, tu so, als wäre das, was wir sagen, die Wahrheit. Wer leben will, hat zwei Alternativen: die Heilige Schrift oder das Gewehr. Wähle deinen Gott und verneige dich.
»Ich bin in der Wüste gewesen«, sagt er, und an den dummen Gesichtern erkennt er, dass sie ihn für einen der ihren halten. »Ich bin herumgeirrt, bis ich meine Orientierung gefunden habe. Bis ich einen Sinn gefunden habe. Einen Führer.«
Jedes Mal wenn er »das gute Buch« sagt, meint er die Memoiren seines Ururgroßvaters. Wenn er sagt, »die rettende Macht«, meint er den Mentor, den Inbegriff menschlicher Güte und Tugend.
Er dachte, dass es ihm schwerfallen würde, diese Predigt zu halten, aber er braucht nichts weiter zu tun, als sich zu erinnern. Er hat gefürchtet, dass sie ihn durchschauen würden, aber die Kanzel ist ein weiterer Schutzmantel, der den wahren Menschen verhüllt.
»Wir irren jetzt in einer Wüste umher«, sagt er, »weil wir das Goldene Kalb angebetet haben.« Das hat ein britischer Mönch mal im Friedenslager gesagt.
»Öl«, murmeln seine Zuhörer.
»Ja«, greift er das Stichwort auf.
Der Organist beginnt zu spielen und die Leute stehen auf. Pastor Young bittet Chris Van Horne aufs Podium und gibt ihm die Bibel, während die Gemeinde einen Choral anstimmt.
Paulo und Annie, die sich bereits in den hinteren Teil der Kirche, verdrückt haben, ziehen gerade ihre Jacken an. Als Pastor Young sieht, wie sie die Hintertür öffnen, fällt ihm noch ein weiterer Bibelspruch ein.
Folget den Kindlein.
Anscheinend ist er der Einzige, der
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