Black Monday
Ihr Begleiter war schon gegangen. Gerard konnte den Blick nicht von ihr wenden. Von ihren schräg stehenden grünen Augen bekam er ganz weiche Knie und Herzklopfen. Die Art, wie sie tanzte, erregte ihn. Er hatte Erfahrung mit Frauen. Seit dem vierzehnten Lebensjahr hatte er Sex. Aber er war noch nie einer Frau begegnet, die ihm – anfangs – so aufregend und zugleich so vertraut erschien, anders und doch ihm ähnlich, offen für alles, aber mit beiden Füßen fest auf dem Boden.
»Hast du Lust, noch woanders hinzugehen?«, hatte er sie nach einer ganzen Weile gefragt.
Anstatt ihm eine Antwort zu geben, musterte sie seine Schuhe. »Größe zehneinhalb, stimmt's?«
»Bist du Fußfetischistin oder so was?«
»Komm mit«, kicherte sie, und eine halbe Stunde später, nach einem Fußmarsch durch hohe Schneewehen, war er mit ihr die drei Treppen zu ihrer Wohnung hochgestiegen, die sie mit zwei anderen jungen Frauen teilte, Absolventinnen der Columbia University und jetzt Mitarbeiterinnen bei Teach-for-America. Was er erwartet hatte, traf nicht ein. Sie öffnete einen Wandschrank im Flur und holte ein Paar Langlauf-Skistiefel Größe zehneinhalb heraus. Und eine wasserfeste Jacke mit Pelzkragen. Und Skihandschuhe, Gamaschen und lange Glasfiber-Skier, alles von einem Mann.
»Die Sachen müssten dir eigentlich passen, Greg.«
»Mir wär's lieber gewesen, du wärst Fetischistin.«
»Komm, wir leisten dem guten alten Abraham ein bisschen Gesellschaft. Der arme Kerl sitzt da draußen ganz allein in der Kälte auf seinem Stuhl fest.«
»Wessen Stiefel sind das eigentlich?«
»Schon eifersüchtig?« Aber es gefiel ihr, und sie hatte richtig getippt.
Washington kommt schon allein bei der Erwähnung des Wortes »Schnee« zum Stillstand. Seine Einwohner planen zwar Kriege, lassen aber das Auto stehen, sobald die ersten Schneeflocken fallen. Gerard glitt durch frischen Pulverschnee hinter der Blondine her, vorbei am beleuchteten Weißen Haus, über den Paradeplatz zur schneebedeckten Mall am Potomac. Sie sei in Middlebury ein Langlaufski-Ass gewesen, erzählte sie ihm, und habe sogar für die Olympischen Spiele trainiert, sei allerdings nicht ins Team aufgenommen worden. Aufgewachsen sei sie in Manchester, Vermont, wo ihr Vater sie als Kind sogar in Schneestürmen zum Skifahren mitgenommen habe.
»Eines Tages möchte ich dasselbe auch mit meinen Kindern machen. Ich hätte gern eine Tochter und einen Sohn«, sagte sie ihm.
Bisher hatte das Wort »Kinder« für Gerard stets das Ende einer Beziehung signalisiert. Genau genommen hatte es ihn in der Meinung bestärkt, dass die betreffende Frau nicht die richtige für ihn war. Aber als er neben dieser langbeinigen jungen Frau dahinglitt, klang das Wort »Kinder« in seinen Ohren plötzlich ganz anders. Er war ein entschlossener Typ, der wusste, was er wollte, wenn er es sah. Und nun hatte er soeben den Heimathafen gesichtet.
Ganz abgesehen davon, sah sie in diesem magischen Schneetreiben so verdammt schön aus mit ihrem wehenden Pferdeschwanz und dem Schnee auf den Wimpern. Die schlanken Schultern, die sich unter den Schneeflocken auf ihrem roten Anorak abzeichneten. Und diese schräg stehenden Augen, die unter der heruntergezogenen Pudelmütze hervorfunkelten.
»Ich möchte Lehrerin werden«, erklärte sie ihm auf den Stufen des Lincoln Memorial, wo sie völlig durchnässt unter den großen traurigen Augen Abraham Lincolns Whiskey Soda aus einem Bocksbeutel tranken. »Ich möchte Kindern helfen.«
»Ich möchte bei der Bekämpfung von Epidemien helfen.«
Das hatte er schon oft gesagt. In diesen Worten lag nichts Spektakuläres. Aber ihre Anwesenheit verwandelte das Normale in etwas Außergewöhnliches, stachelte seinen Ehrgeiz an, verlieh ihm Energie. Gerard hatte nie davon geträumt, reich oder berühmt zu werden. Materielle Werte bedeuteten ihm nichts. Er spürte, dass diese Frau seine grundsätzliche Lebensauffassung teilte. Und er brachte den Mut auf, sich von Anfang an einzugestehen – um nur ja keinen Fehler zu machen –, dass er sich nach Beständigkeit sehnte.
Als sie zur Morgendämmerung wieder in ihre Wohnung zurückkamen, wusste Gerard, dass er gerade eine seiner großartigsten Nächte erlebt hatte. Er fror, war hungrig und glücklich. Sie backten Omeletts in ihrer Miniküche, hackten Pilze, rote Paprikaschoten und Cheddar. Der gemeinsame Rhythmus der beiden Messer sorgte für eine anheimelnde Stimmung. Zum Nachtisch gab es eine Scheibe Sauerteigbrot mit
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