Black Rabbit Summer
schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er jemanden verletzt hat.«
»Was ist mit Stella Ross? Wissen Sie, was mit ihr passiert ist?«
Lottie schaute hinüber zu ihrem Sohn. Er hatte sich nicht gerührt, sondern lehnte immer noch lässig am Kühlschrank. »Tom weiß nichts über Stella Ross«, sagte Lottie und wandte sich wieder zu mir. »Bevor die Polizei kam, wusste er nicht einmal, wer sie war.«
»Das hab ich auch nicht behauptet.«
»Ich weiß.«
»Ich dachte nur, vielleicht haben Sie irgendwas gesehen, wissen Sie...«
»Ich habe schon alle Fragen der Polizisten beantwortet.«
»Ich auch«, sagte ich. »Aber das heißt nicht, dass ich der Polizei alles erzählt hab.«
Sie lächelte. »Du glaubst, ich weiß mehr, als ich sage?«
»Keine Ahnung... Sie haben mir gerade erklärt, dass Sie Dinge sehen können, die andere Menschen nicht sehen können.« |387| Ich schaute sie an. »Und ich glaube nicht, dass Sie
das
der Polizei gesagt haben, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hätten gar nicht zugehört.« Dann schaute sie mich wieder an. »Warum hast
du
ihnen nicht alles erzählt?«
»Weiß nicht... einfach...«
»Hast du Angst?«
»Wovor?«
»Wovor auch immer... Angst ist oft ein Grund zu lügen.« »Angst vor was?«
»Was es auch sein mag, wovor du Angst hast.«
Ich dachte für einen Moment drüber nach, führte mir all meine Ängste vor Augen – körperliche, geistige, seelische, unsichtbare – und versuchte mir darüber klar zu werden, ob irgendeine davon der Grund für all meine Lügen sein
könnte
... aber es war zu viel zum Nachdenken. Es war auch zu
unheimlich
, um darüber nachzudenken.
Ich sah Lottie an. »Warum haben
Sie
der Polizei nicht alles erzählt?«
Sie zuckte die Schultern. »Wie gesagt, sie hätten nicht zugehört. Warum sollten sie jemandem wie mir zuhören?«
»Ich höre zu«, erklärte ich.
Sie lächelte mich wieder an und mischte beiläufig die Karten in ihrer Hand. »Ich dachte, du glaubst nicht an die Macht der Karten?«
»Tu ich auch nicht.«
»Aber du glaubst an mich?«
»Keine Ahnung. Sie haben mir ja bisher noch nichts erzählt.«
»Ich kann dir nur erzählen, was ich denke.«
Für einen Augenblick sagte ich nichts, sondern sah sie |388| bloß an und versuchte in ihren Augen zu lesen, herauszufinden, worum es ihr ging... aber ich schaffte es nicht. Ihre Augen waren wie Spiegel. Ich fand darin nichts außer mir selbst.
»Reden Sie weiter«, sagte ich. »Erzählen Sie mir, was Sie denken.«
»Ich denke, es geht bei dem Ganzen um Liebe«, sagte sie.
»Um Liebe?«
Sie nickte. »Es ist ein herzloses Geschäft.«
Während Lottie mir erzählte, was sie in jener Nacht gesehen hatte und was es ihrer Meinung nach bedeuten könnte, verließ, wie mir auffiel, der Stapel Karten nie ihre Hände. Zuerst machte sie gar nichts mit ihnen – sie schien sich nicht einmal bewusst zu sein, dass sie die Karten festhielt. Sie waren ganz einfach da, in ihren Händen, fast als ob sie ein Teil von ihr wären. Was sie ja, denke ich, auch irgendwie waren.
»Als Raymond an dem Abend ins Zelt kam«, erklärte sie mir, »wusste ich sofort, dass er irgendetwas an sich hatte, was anders war. Und an der Art, wie er die Dinge betrachtete, sah ich, dass er glaubte, etwas vom Wahrsagen zu verstehen. Ich war mir nicht sicher, ob er ans Wahrsagen glaubte oder nicht, doch ich spürte, dass er wusste, was ihn erwartete.« Sie sah mich an. »Hab ich recht?«
»Keine Ahnung«, gab ich zu. »Raymond hat immer gern gelesen und er liest über alle möglichen seltsamen Dinge. Kann gut sein, dass da auch mal was übers Wahrsagen dabei war.«
Sie nickte. »Er wusste, was die Karten symbolisieren. Deshalb hab ich sie für ihn nicht manipuliert.« Sie lächelte mich an. »Normalerweise ziehe ich nur die Karten heraus, die zu dem Eindruck passen, den ich von der Person mir gegenüber |389| bekomme, doch bei Raymond... nun ja, ich dachte, es wäre ganz interessant zu sehen, was ohne mein Eingreifen passieren würde.«
»Waren Sie deshalb so überrascht, als Sie seine Karten sahen?«
»Ja... es waren
sehr
dunkle Karten. Dunklere, als ich je auswählen würde. Und auch wenn ich weiß, es sind nur Karten und es steckt nichts dahinter...« Sie schaute auf die Karten in ihrer Hand. »Sie sind nichts als gemusterter Karton, Zahlen, Symbole und Farben... sie sind nur Werkzeuge. Sie können sein, was immer du willst.« Langsam drehte sie die oberste Karte des Stapels um und legte sie mit dem Blatt
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