Black Swan - Silberner Fluch
tropfenförmig, grau und schimmerte leicht.
»Ein Hämatit«, erkannte ich. »Ein Blutstein.«
»Ja!«, nickte Noam beifällig. Er nahm meine rechte Hand mit seiner linken und ließ den Stein auf meine Handfläche fallen. Er war schwerer, als ich erwartet hätte. »Wir nennen ihn den Kompasskiesel, wegen seiner ferromagnetischen und antiferromagnetischen Eigenschaften. Ganz hervorragend geeignet, um eine Richtung anzuzeigen.«
Etwas zuckte in meiner Hand, und ich sah, dass der Stein sich drehte. Schließlich blieb er stehen, und seine Spitze war auf die Verkaufsfläche gerichtet. »Er zeigt nach Norden, nicht wahr?«, fragte ich. Mit meinem Finger stupste ich den Stein wieder an, bis er in die andere Richtung wies. Als ich losließ, richtete er sich wieder nach Norden aus. »Cool!«, strahlte ich. »Kann ich den also bei mir tragen?«
Noam löste seinen melancholischen Blick von meiner Hand und sah kurz Oberon an, der einmal nickte. Noam bedeckte nun meine Hand, die er immer noch in seiner Linken hielt, mit der Rechten und drückte sie zusammen. Es war, als steckte man in einem Schraubstock. Seine kurzen, gedrungenen Finger waren so kalt und hart wie Stahl, und ich hatte Angst, er würde mir die Finger brechen. Der Hämatit bohrte sich dabei wie ein Pfeil aus Eis in meine Handfläche.
»Hey!«, rief ich und versuchte mich dem Griff zu entwinden, aber ich konnte die Nische nicht verlassen, weil Oberon mir im Weg saß. Allerdings hätte ich Noams Schraubstock ohnehin nicht entfliehen können. Verzweifelt sah ich mich um, ob mir einer der anderen Restaurantgäste zu Hilfe eilen würde, aber natürlich hatte niemand meinen Schmerzensschrei gehört. Also sah ich wieder in Noams tiefgründige braune Augen und flehte ihn wortlos an, mich loszulassen. Seine Augen waren tränenblind, aber er drückte nur noch fester zu.
»Entschuldige, mein Liebchen«, sagte er und packte mich noch einmal mit eisernem Griff, der einen unerträglich schmerzvollen Stich durch meine Handfläche schickte, der den ganzen Arm hinaufwanderte und schließlich
bis in die Brust ging. Dann lockerte er seinen Griff, und während er meine pochende Hand weiter festhielt, senkte er den Kopf.
Wenn er meine Hand jetzt küsst, bekommt er eine Ohrfeige, dachte ich.
Aber er ließ lediglich meine Finger los und blies über meine Handfläche. Als ich sie betrachtete, erwartete ich einen verkrüppelten Stumpen zu sehen, aber meine Hand war völlig unbeschädigt, die Haut so weich und weiß, als käme ich gerade von der Maniküre. Nur eines hatte sich verändert: Unter der Haut schimmerte etwas Tropfenförmiges. Ich drehte meine Hand hin und her, um es besser erkennen zu können, und der Tropfen bewegte sich unter der Haut, richtete sich immer wieder nach Norden aus. Wenn er sich rührte, hatte ich das Gefühl, dass sich mein ganzer Körper – das Blut in meinen Adern, die Härchen auf meiner Haut, die Atome in meinen Zellen – mit ihm bewegte und nach Norden strebte. Noam hatte nicht nur den Kompasskiesel in meine Hand verpflanzt, er hatte mich in Gänze zu einem Kompass gemacht.
Engel der Wasser
»War das wirklich nötig?«, fragte ich Oberon, als wir wieder auf der Straße standen. »Hätten wir nicht einfach in einen Elektromarkt gehen und uns irgend so ein blödes Navigationsgerät kaufen können?«
Oberon packte meine Hand und zwang mich, ihn anzusehen. »Glaubst du, der Stein täte nichts anderes als Richtungen anzuzeigen?«
»Nein«, sagte ich und zog die Hand zurück, »er tut außerdem verdammt weh. Mein ganzer Arm ist taub. Und ich kann es sogar bis hier fühlen.« Ich schlug mir aufs Herz.
»Natürlich fühlst du es dort.« Oberon beugte sich so nahe zu mir, dass ich seinen Atem wie zornigen Wind auf meinem Gesicht spürte. »Dein Herz schlägt nun im Gleichtakt mit dem Sog der Gezeiten und der Umdrehung der Erde. Das versteht man unter geerdet sein . Du könntest nun den Weg durch den Dschungel des Amazonas ohne Kompass finden …«
»Na toll. Allerdings lebe ich in New York. Norden ist dort …« Ich deutete die Fifth Avenue hinunter, aber mein
Arm zuckte und schwenkte ein paar Grad weiter nach links. »Na schön, das Netz der Straßen ist vielleicht nicht perfekt ausgerichtet, aber ich habe noch nie einen Kompass gebraucht, um mich zu orientieren. Na ja, in Brooklyn vielleicht schon …«
»Der Ort, an den du nun gehen wirst, ist etwas unübersichtlicher als Brooklyn – und gefährlicher«, sagte er, wandte sich wieder um und
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