Black Swan - Silberner Fluch
war nicht größer als Becky, führte uns aber durch die Halle wie ein Fürst, der sein Reich begutachtet und dabei winkend Nettigkeiten mit den Leuten austauscht. Oberon mochte der König der Elfen sein, aber hier waren wir ganz klar in Noam Erdmanns Reich.
»Das mit dem Erdmann habe ich verstanden«, flüsterte ich Oberon zu, als wir die Treppe zur Balustrade hinaufstiegen, »aber sein Vorname Noam, der klingt doch ein bisschen wie …«
»Wie das Wort Gnom? Ja, genau das ist er auch – ein Elementarwesen, das über die Schätze und Ressourcen der Erde wacht.«
»Und welche Fähigkeiten soll ich bei ihm lernen?«, fragte ich mit einem Blick auf den gedrungenen kleinen Mann. Nun, da ich es wusste, fehlte wirklich nur noch eine Zipfelmütze, und er hätte wie eine der Figuren ausgesehen, mit denen die Menschen ihre Vorgärten schmückten.
Oben an der Treppe angekommen, drehte sich Oberon zu mir um. Noam war einige Meter vor uns und begrüßte voller Begeisterung eine stramme Kellnerin, die sich das Haar in der Farbe einer reifen Aubergine gefärbt hatte. »Wir werden ihn bitten, dich zu erden«, sagte er. »Aber im Augenblick wäre ich vor allem glücklich, wenn du lernen würdest, in der Wahl deiner Begleiter mehr Vorsicht walten zu lassen.« Er warf einen bedeutungsschweren
Blick auf meinen Hals, der von dem Rollkragen meines Pullovers verdeckt wurde. Bevor ich ihn fragen konnte, ob Lol ihm von den Ereignissen der letzten Nacht berichtet hatte, wandte er sich wieder ab und setzte sich zu Noam in eine Nische mit gepolsterten Sitzbänken, von der man einen guten Blick über den Verkaufsraum hatte. Ich nahm neben Oberon Platz, da es mir lieber war, die traurigen braunen Augen des Juweliers mir gegenüber zu haben, als Oberons brennenden Blick ertragen zu müssen.
»Die Blinis hier sind hervorragend«, erklärte mir Noam, als die auberginehaarige Kellnerin, auf deren Namensschildchen Sadie stand, uns Plastikbecher mit lauwarmem Wasser brachte. »Und der Borschtsch ebenfalls.«
»Dann nehme ich das«, sagte ich zu Sadie. »Und eine Tasse heißen Tee.«
»Die kleine Lady hat Geschmack«, strahlte Noam und zwinkerte mir zu. »Ich nehme dasselbe, aber mit einer Limonade, bitte.«
Oberon bestellte Chow Mein – ich hatte den Eindruck, er wollte sich unbedingt abgrenzen – und einen Eistee.
Nachdem Sadie unsere Bestellungen entgegengenommen hatte, wandte sich Noam wieder an Oberon, und sein Gesicht wurde ernst. »Wir haben davon gehört, was gestern im Park geschehen ist. Stimmt es, dass Dee die Sylphen getötet hat?«
Oberon ließ den Blick zu dem Chassid gleiten, der am Tresen eine Suppe aß, dann zu dem ältlichen Pärchen in der Nische hinter uns, und hob die Augenbrauen. Noam nickte und zog einen grauen Samtbeutel aus seiner Tasche. Er löste das Band, das ihn verschloss, und schüttelte dann den Inhalt des Beutels auf seine breite, von tiefen
Linien durchzogene Handfläche. Auf seiner wettergegerbten Haut funkelten ein halbes Dutzend Diamanten und eine Auswahl verschiedenfarbiger Steine, einige glatt, andere geschliffen. Er wählte einen ovalen, durchsichtigen Kristall und legte ihn mitten auf den Tisch. Als ich das Juwel genauer in Augenschein nahm, entdeckte ich, dass es von dünnen schwarzen Linien durchzogen war, die sich wie die Blätter eines winzigen Farnwedels über den Stein ausbreiteten.
»Quarz mit eingeschlossenen Dendriten«, sagte ich. »Einer meiner Lieblingssteine.« In dem Edelsteinseminar am FIT hatte ich gelernt, dass die Ausprägung dieser Farnwedel vom Eisen stammte, das sich im Stein befand, aber ich musste bei diesem Phänomen trotzdem stets an Pflanzenfossile denken.
»Ja, und für ein privates Gespräch sehr nützlich.« Noam hob seinen Becher mit Wasser und ließ einen Tropfen auf den Stein fallen, während er ein paar gutturale Silben murmelte. Der Stein zischte, vibrierte, drehte sich zweimal entgegen dem Uhrzeigersinn, dann lag er wieder still. Eine Minute lang geschah gar nichts. Als ich dann wieder genauer hinsah, wies die angegriffene Linoleumoberfläche des Tisches feine, zarte Linien auf, die sich bis zum Rand erstreckten. Allerdings hörten sie dort nicht auf, sondern sie breiteten sich weiter aus, bis sie unsere Nische mit einer Kristallkuppel umgeben hatten, die von einem Flechtwerk schwarzer Äste getragen wurde. Die Schönheit dieser Konstruktion nahm mir den Atem, und ich hörte, wie das überraschte Geräusch, das ich von mir gab, von den Wänden zurückhallte. Ich
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