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Black Swan - Silberner Fluch

Titel: Black Swan - Silberner Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Carroll
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marschierte nun die Fifth Avenue nach Norden (beziehungsweise Nordosten) hinunter. Obwohl ich so schnell hinterhereilte, wie ich konnte, holte ich ihn erst wieder ein, als er an einer Ampel an der 57th Street stehen blieb.
    »Du hättest mich wenigstens warnen können«, sagte ich, während wir warteten.
    Oberon starrte die Ampel auf der anderen Seite an, die nun so unvermittelt auf Grün sprang, dass eine Reihe Taxis mit quietschenden Bremsen halten musste. »Hätte das wirklich etwas geholfen?« Er sah mich aus dem Augenwinkel an, während wir die Straße überquerten. »Bei Patienten habe ich oft festgestellt, dass die Angst vor dem Schmerz oft schlimmer ist als der Schmerz an sich.«
    »Und dann schleichst du dich also an sie heran und überraschst sie mit einer Spritze?«
    »Nein«, räumte er ein, hielt inne und sah mich an. »Dann würden sie mir nie wieder vertrauen.« Er sah mir prüfend ins Gesicht. »Es tut mir leid. Du hast Recht. Du verdienst zu wissen, was auf dich zukommt … es ist nur so, dass vieles von dem, was ich sehe, verdreht und verwirrend ist. Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich dir erzählen sollte.«
    »Du kannst in die Zukunft sehen?« Diese Vorstellung
schockierte mich; gleichzeitig stellte ich verwundert fest, dass es immer noch Dinge gab, die mich überraschen konnten. Wir waren vor dem Schaufenster eines Reisebüros stehen geblieben. Hinter Oberon erstreckte sich eine Winterlandschaft samt einer Frau im Abendkleid, die Akkordeon spielte, und einem weißen Wolf mit schwarzem Schlips und Trompete. Ein weißer Schwan flog auf die beiden zu und trug ein Notenblatt im Schnabel. Das war die Welt, in die Oberon gehörte, nicht auf den Bürgersteig, wo er sich bei einer bloßen Sterblichen wie mir entschuldigte. Zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, erkannte ich die Traurigkeit in seinen Augen – die Melancholie, die auch Noam Erdmann ergriffen und die letzte Nacht im Gesang des Windes gelegen hatte. Nun fiel mir wieder ein, was Oberon mir in dem unterirdischen Gang unter Pucks Tearoom gesagt hatte. Wir mögen früher einmal ein bedeutendes Volk gewesen sein – viele von uns wurden als Götter angebetet. Wie mochte es sich anfühlen, einst ein Gott gewesen zu sein und nun auf einer belebten Straße in Manhattan nicht einmal mehr erkannt zu werden?
    »Ich sehe Ausschnitte der Zukunft, aber sie ist ständigen Veränderungen unterworfen. Sobald jemand den einmal eingeschlagenen Weg verlässt, ändert sich auch seine Zukunft.«
    »Kannst du sehen, ob es mir gelingen wird, Dee aufzuspüren?«, fragte ich.
    »Nein. Ich sehe dich im Dunkeln wandern. Deswegen wollte ich, dass du den Kompasskiesel bekommst – damit du dich nicht verläufst. Aber du hast Recht – ich hätte dir sagen sollen, was auf dich zukommt, und ich hätte dir eine Wahl lassen müssen.«

    Ich hob die Hand. Der Kompasskiesel richtete sich gleich wieder nach Norden aus. Ein Stein bewegte sich unter meiner Haut, aber plötzlich tat es nicht mehr weh. Es fühlte sich vielmehr so an, als hielte ich einen kleinen Vogel in der Hand, eine Brieftaube, die ich in die Luft werfen konnte, damit sie mir den Weg nach Hause zeigte.
    »Na schön«, sagte ich und sah Oberon wieder an. »Ich verzeihe dir. Aber nächstes Mal warnst du mich vorher, okay?«
    Er grinste so breit wie der weiße Wolf auf dem Werbeplakat für die Weihnachtsferien. »Versprochen. Ich fange gleich an. Du solltest besser ans Telefon gehen. Deine Freundin Becky ruft nämlich gleich an, und sie ist ziemlich aufgelöst.« Damit setzte er seinen Weg die Fifth Avenue hinunter fort, und tatsächlich läutete in diesem Augenblick mein Telefon. Ich holte es aus meiner Tasche und folgte Oberon, während ich den Anruf annahm.
    »Garet?!« Beckys Stimme überschlug sich fast. »Gott sei Dank! Ich versuche dich schon den ganzen Morgen zu erreichen, aber immer ging die Mailbox ran. Hast du dein Telefon wieder abgeschaltet?«
    »Äh, nein, ich war in einer …« Fragend sah ich Oberon an, ob ihm auf die Schnelle ein akzeptabler Ersatz für Quarzdendritenkuppel des Schweigens einfiel. Seine Lippen formten das Wort U-Bahn , und er hielt mich schnell am Ellenbogen fest, damit ich beim Überqueren der 59th Street nicht über den Bordstein stolperte. »… in der U-Bahn. Tut mir leid. Ist etwas passiert? Ist etwas mit meinem Vater?«
    »Nein, deinem Vater geht es gut. Ich war vorhin bei ihm, und er und Zach waren bester Laune und haben eine
Show geplant. Nein, es geht um

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