Black Swan - Silberner Fluch
Jay. Hast du gestern Nacht mit ihm geredet?«
»Ein bisschen«, gab ich zögernd zu. Ich versuchte, mich aus Jays und Beckys Streitereien möglichst herauszuhalten. »Er hat mir gesagt, ihr hättet ein paar kreative Differenzen über die Richtung, die die Band jetzt einschlagen sollte.«
Becky schnaubte. »Er würde doch am liebsten gar keine Richtung einschlagen, sondern nur noch rückwärts gehen. Wenn er könnte, wie er wollte, dann würden wir Balalaika spielen und die Aufnahmen später als Kassetten unters Volk streuen.«
»Ja, Jay ist ein bisschen altmodisch. Weißt du doch.« Ich sah Oberon an und deutete mit einem Augenrollen an, dass ich den Disput zwischen Jay und Becky ziemlich anstrengend fand. Inzwischen waren wir im Park angelangt und hielten auf den Zoo zu. Dabei kamen wir an einem Straßenkünstler vorüber, der mit Farbkreiden auf dem Bürgersteig malte, einer Calypso-Band mit Steel Drums und einer Frau auf Stelzen, die wie das Empire State Building gekleidet war. Bei all diesen Eindrücken fiel es schwer, sich auf das Gespräch mit Becky zu konzentrieren.
»Er ist nicht mehr bloß altmodisch. Er steckt völlig in der Vergangenheit fest. Das ist nicht gesund. Ich glaube, er leidet an Depressionen.«
Ich schob das Telefon etwas von meinem Mund weg, damit Becky meinen Seufzer nicht hörte. Sie hatte vor Jahren auf der Highschool einen Psychologiekurs belegt; seitdem betätigte sie sich zu gern als Hobby-Psychologin und nahm das Seelenleben aller Menschen in unserer Umgebung
auseinander. Aus irgendeinem Grund tat sie das vor allem dann, wenn sie unter Stress stand; es war, als müsste sie die Neurosen der übrigen Welt katalogisieren, um ihre eigenen unter Kontrolle zu behalten. Nun zählte sie Jays Symptome auf: Er schlief nicht mehr (allerdings wusste ich auch nicht, wann er bei dem Terminplan, den die Band in letzter Zeit hatte, dazu Gelegenheit gehabt hätte), distanzierte sich von seinen Freunden (soweit ich wusste, war Becky die Einzige, die er mied), konnte keine Beziehung pflegen (das traf in gleichem Maße auf sie selbst zu). Sie wurde hörbar immer besorgter um Jay. Nur um ganz sicherzugehen, beschloss ich, nun das Versprechen auszunutzen, das ich Oberon abgenommen hatte.
»Bleib mal einen Augenblick dran, Becky.« Ich hielt das Mikrofon zu und wandte mich an Oberon. »Siehst du in Jays Zukunft, dass ihm irgendetwas Böses zustößt?«
Oberon blieb stehen, schloss die Augen und wandte sein Gesicht zum Himmel. Wir hatten den Anfang der baumbestandenen Promenade erreicht, und die Schatten der nackten Ulmenäste spielten auf seinem Gesicht. Ich fragte mich, ob ihm so die eigene Zukunft erscheinen mochte: Schattenäste, die in die Leere hinauswuchsen.
Schließlich öffnete er die Augen. »Nein, ich sehe nichts dergleichen«, antwortete er.
»Danke.« Ich machte das Mikrofon wieder frei. »Becky, ich glaube, Jay ist wirklich okay. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich im Augenblick wirklich zu viel um die Ohren, um die Mediatorenrolle bei eurer Band zu übernehmen. Vielleicht solltest du lieber mal über die Richtung nachdenken, in die du gerade gehst.«
Es blieb so lange still am anderen Ende der Leitung,
dass ich schon fürchtete, wir seien unterbrochen worden, aber dann sagte Becky: »Oh. Vielleicht hast du Recht. Ich melde mich später noch einmal.« Dann legte sie auf. Dass Becky so knapp antwortete, hatte ich kaum jemals zuvor erlebt.
»Meinst du, ich war zu hart zu ihr?«, fragte ich und steckte das Telefon wieder weg, aber Oberon schien von der Szenerie, die sich uns offenbarte, zu sehr in Anspruch genommen, um zu antworten. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich begriffen hatte, was ihn so bewegte. Als die Sonne durch die Äste fiel, glitzerte bunter Glimmer auf den Wegplatten. Es sah aus, als sei ein Kunstprojekt der dritten Klasse fürchterlich danebengegangen.
»Ist es das, was von den Sylphen übrig geblieben ist?«, fragte ich schließlich.
Oberon nickte. Auf ein Knie gestützt, fegte er eine Handvoll Glimmer zusammen und schnupperte daran. »Eisen«, stellte er fest. »Dee hat einen Nebel ausgesandt, der mit Eisenmolekülen versetzt war. Das hat sie umgebracht. Die kleineren Unirdischen überstehen die Berührung mit Eisen nicht.« Er sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, stand dann wieder auf und schleuderte den Glimmer in die Luft. Ein Windstoß fuhr hinein und trug ihn bis in die Baumspitzen. Nun hörte ich ein Lied im Wind – ein Klagen, bei
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