Black Swan - Silberner Fluch
irgendwas von dem Duschvorhang gesagt … das Klacken des Vorhangs, der sich im Durchzug bewegte, hatte ihn geweckt … aber jetzt war das Fenster gar nicht offen. Ich hatte es gleich zugemacht, als ich heute Morgen ins Bad gekommen war. Nun starrte ich verblüfft den Vorhang an, die Hand mit der Klinge noch immer über meinem Handgelenk. Später fragte ich mich, wieso es diese Unstimmigkeit war, die mich endlich aufrüttelte – nicht das unerklärliche Erscheinen einer Flasche Wein, der Verlorene Zeit hieß, nicht die neue Einrichtung des TCM-Studios oder die Tatsache, dass Robert Osborne zum Selbstmord riet -, dafür aber ein Duschvorhang, der sich in einem Raum ohne Zugluft bewegte. Noch immer weiß ich nicht, warum, aber irgendetwas daran, dass das einfach falsch war, durchdrang den schwarzen Nebel, der mein Gehirn umwolkte.
Ich legte die Klinge wieder aufs Waschbecken, ging zur Badewanne und sah hinein. Dort, auf dem Boden der
Wanne, lag eine Miniaturausgabe von Vicky Page aus der letzten Szene in Die roten Schuhe. Es stimmte alles: angefangen mit dem roten Haar bis hin zum zerrissenen, fleckigen Tutu und den roten Schuhen. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich Lol. Sie lag schlaff auf dem Emaille, und eine winzige Hand zerrte am Saum des Duschvorhangs. Als sie mich erblickte, öffnete sie den Mund, aber es war kein Geräusch zu hören. Dann ließ sie den Duschvorhang los und deutete auf ihre Füße.
Was ich für rote Schuhe gehalten hatte, waren ihre Füße – die rot vor Blut waren.
Die kleineren Unirdischen überstehen die Berührung von Eisen nicht . Mir fiel wieder ein, was Oberon im Park gesagt hatte, als er die sterblichen Überreste der Sylphen verstreut hatte. Blut war voller Eisen.
Schnell hob ich Lol auf und trug sie zum Waschbecken. Dort spülte ich ihre Füße mit kaltem Wasser ab und füllte dann das Becken, damit sie die geschundene Haut baden konnte. Während sie am Rand sitzen blieb, fand ich eine Mullbinde im Medizinschrank und wickelte sie um mein geritztes Handgelenk. Als ich wieder ins Becken sah, formten sich dort Bilder im Wasser, wie gestern im Park mit Melusine. Also hatte sie mir tatsächlich eine Fähigkeit verliehen. Doch dieses Mal sah ich statt der Gegenwart die Vergangenheit im Wasser. Lol, die Becky im Bad entdeckte und versuchte, die Blutung zu stillen, die aber dann, als das Blut über ihre Füße lief, in die Wanne gefallen war. Dort hatte sie so lange mit dem Vorhang gerasselt, bis sie Jay geweckt hatte.
»Danke«, sagte ich. »Du hast Becky das Leben gerettet – und mir auch.« Sie krächzte leise und spritzte mir
Wasser ins Gesicht. »Ich weiß nicht, was mir in den Kopf gekommen ist«, setzte ich hinzu.
Lol verschränkte die Arme vor der Brust und warf mir einen leicht ungehaltenen Blick zu. Dann spreizte sie ihre Flügel, schwirrte ins Wohnzimmer und schwebte über dem Fernseher herum. Das Standbild von Robert Osborne war immer noch zu sehen, aber es war gar nicht Robert Osborne. Es war John Dee.
»Er hat versucht, Becky dazu zu bringen, dass sie sich umbringt, und es dann bei mir genauso gemacht.«
Lol flatterte hin und her und deutete auf den Bildschirm. »Ja«, nickte ich. »Jetzt begreife ich. Es ist das Versteck von John Dee. Die Gemälde und die Teppiche sind dieselben wie die, die ich in der Höhle unter dem Fluss gesehen habe. Das muss ich Oberon erzählen – verdammt!« Ich warf einen Blick auf die Zeitanzeige des Kabeltuners. Es war 13:33 Uhr. Mir blieb nicht einmal mehr eine halbe Stunde, um zum Rathaus zu kommen. »Ich muss das Elementarwesen des Feuers kennenlernen«, erklärte ich, und als mir einfiel, dass sie ja eine Feuerfee war, fügte ich hinzu: »Willst du mitkommen?«
Lols lohfarbene Haut wurde kalkweiß. Sie schüttelte den Kopf und schien plötzlich die Sprache verloren zu haben. Lol hatte einen Vampir angegriffen und die Vergiftung durch eisenhaltiges Blut riskiert. Ich fragte mich, was ihr wohl so viel Angst einjagen mochte.
Der Sekretär des Taxators
Auf der U-Bahn-Fahrt zum Rathaus gelang es mir nicht ganz, das beschmutzte Gefühl abzuschütteln, das Dees Eindringen in meinen Kopf hinterlassen hatte. Wenn schon der Einbruch der Schattenmänner wie ein Übergriff gewesen war, dann fühlte sich das jetzt an wie eine geistige Vergewaltigung. Das Schlimmste war, dass ich mich fragen musste, ob er noch immer in mir war und meine Gedanken auf irgendeine Weise beeinflusste, die ich mir vielleicht gar nicht vorstellen konnte. Als ich
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