Black Swan - Silberner Fluch
bemerkenswert ruhig.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte er. »Es ist wirklich eine ähnliche Geschichte. Santé hat sich am Vorabend seiner größten Vernissage umgebracht, und Beckys Band steht auch gerade kurz davor, den großen Durchbruch zu schaffen.« Er lächelte wehmütig. »Manchmal denke ich, es ist leichter, eine verkrachte Existenz zu sein.«
Die Bemerkung verblüffte mich. In all den Jahren, in denen Zach keinen Pinsel mehr zur Hand genommen hatte, war ich stets davon ausgegangen, dass ihm die Inspiration fehlte. Nie war ich darauf gekommen, dass er sich vor Seelenschmerz zu bewahren versuchte, indem er sich nicht zu sehr seiner Sache verschrieb.
»Du bist keine verkrachte Existenz, Zach«, sagte ich und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du bist … du gehörst zur Familie. Ich weiß nicht, was ich in den letzten Tagen ohne dich gemacht hätte.«
Zachs Augen wurden groß und begannen zu glänzen. Erst fürchtete ich, er würde in Tränen ausbrechen, aber dann richtete er sich gerade auf und schüttelte die in sich zusammengesunkene Haltung ab, die sonst so typisch für ihn war. »Mach dir um Roman und Becky keine Sorgen«, sagte er. »Ich werde sie beide im Auge behalten. Und du tust, was du eben tun musst. Ich halte hier die Stellung.«
Trotz Zachs Versicherung ließ ich Becky nur sehr ungern allein, aber um elf überbrachte mir eine Schwester eine
Nachricht von Oberon. »Komm um zwei Uhr zur Treppe vor der City Hall. Zieh deine Schweißer-Arbeitskleidung an.«
Meine Arbeitskleidung? Dann fiel es mir ein: Das einzige Element, von dem ich noch keinen direkten Vertreter getroffen hatte, war das Feuer. Will hatte gesagt, dass sich Oberon die gefährlicheren Lehrer für den Schluss aufheben würde. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was gefährlicher sein könnte, als vom Empire State Building zu springen oder in molekularer Form durch die Wasserversorgung der Stadt zu schwimmen, aber ich wusste, dass ich für das, was auf mich zukam, besser gewappnet sein würde, wenn ich noch etwas Schlaf bekam.
Doch was mich dann wirklich aus dem Krankenhaus vertrieb, war der Anblick von Joe Kiernan. Ich kam gerade aus der Cafeteria zurück, als ich sah, wie er in Beckys Zimmer ging. Sofort blieb ich auf dem Flur stehen und winkte Jay zu mir, als er wenig später aus dem Krankenzimmer trat.
»Was macht der denn hier?«, fragte ich. »Glaubt er, dass es etwas mit dem Einbruch zu tun hat, was Becky passiert ist?«
Jay starrte mich an. »Wieso sollte er?«, fragte er. Dann zuckte er mit den Schultern. »Er war vorhin schon einmal da. Angeblich nur aus reiner Freundschaft und um zu sehen, wie es Becky geht.«
Zwar unterstellte ich Detective Kiernan, dass er nichts ohne eine bestimmte Absicht tat, aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, wie er eine Verbindung zwischen Beckys Selbstmordversuch und John Dee hätte ziehen sollen – und erklären wollte ich ihm das ganz sicher nicht.
»Behalte ihn lieber im Auge«, sagte ich Jay. »Ich muss eine Weile nach Hause.«
Jay nickte. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen – du fängst an, ein wenig paranoid zu klingen.«
Zu Hause ging ich als Erstes ausgiebig unter die Dusche, allerdings im Bad im zweiten Stock; Dads Badezimmer würde ich vermutlich eine ganze Weile nicht benutzen. Dann nahm ich mir Jogginghosen und ein altes T-Shirt aus dem Schrank, und darüber zog ich aus einer Laune heraus Wills Hemd. Als ich mich dann aufs Bett legte, hörte ich wieder Jays Stimme, die mir schilderte, was letzte Nacht passiert war.
Becky und ich hatten Die roten Schuhe mit sechzehn bei einem Filmfestival im Forum gesehen. Sie war so begeistert, dass sie mich drängte, den Film gleich anschließend noch ein zweites Mal anzuschauen, und dann ging sie später sogar in eine dritte Vorstellung. Zwar hatte mir der Streifen auch gefallen, aber ich fand es damals seltsam, dass sie eine derartige Besessenheit entwickelte. Es war schon komisch, dass er ausgerechnet gestern Abend im Fernsehen gelaufen war, obwohl er nicht im Programmheft stand. Becky war total begeistert und bestand sogar darauf, dass wir ihn für dich aufnehmen .
Ich erhob mich aus dem Bett und schlich barfuß hinunter in den ersten Stock. Als ich die Tür zur Wohnung meines Vaters öffnete, schlug mir der kupferartige Geruch von Blut entgegen. Beinahe hätte ich die Tür wieder zugeschlagen und wäre die Treppe hinaufgeflüchtet, aber ich zwang mich, zum Sofa zu gehen und mich vor den Fernseher zu
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