Black Swan - Silberner Fluch
meiner Studien hier gewesen. Es war ein Ort, an dem ich mich ihr nahe fühlte, aber heute fand ich keinen Frieden.
So verrückt die Geschichte war, die mir Will Hughes erzählt hatte – und das war sie zweifelsohne -, am meisten trieb mich die Vorstellung um, dass vielleicht ein Körnchen Wahrheit in ihr stecken mochte, dass meine Mutter vielleicht von ihr gewusst, sie mir aber nicht erzählt hatte. Wie hatte sie mir etwas so Wichtiges vorenthalten können? Es war, als hätte sie einen Teil ihres wahren Ichs vor mir verborgen. Und daher konnte es gar nicht wahr sein. Aber wieso hätte sich Will Hughes eine solche Geschichte ausdenken sollen? Konnte sie überhaupt irgendeinen Anker in der Realität haben?
Ich erklomm die kleine Anhöhe zur Linden Terrace, der höchsten Erhebung der Stadt, wo ein paar Teenager in Sweatshirts und tief sitzenden Hosen um den Fahnenmast herum Skateboard fuhren. Sie machten mir höflich Platz, als ich zur steinernen Mauer ging, von der aus man über die Stadt blicken konnte. Im Süden zogen sich
Sturmwolken über den Wolkenkratzern von Manhattan zusammen, im Norden lag die Festung der Cloisters, und das rote Licht auf dem Turm schien hell wie ein Leuchtfeuer.
»Ich werde immer über dich wachen, Marguerite«, hatte meine Mutter manchmal gesagt. Und sie hatte meinen Namen dabei stets französisch ausgesprochen … es sei denn, sie hatte gar nicht Marguerite gesagt, sondern vielmehr ma garite – mein Wachtturm. Hatte meine Mutter von dieser Familiengeschichte gewusst? Und wenn ja, hatte sie mir davon erzählen wollen, bevor sie starb?
Ich starrte zu dem Turm hinüber, als könne er mir die Antwort darauf geben … und vielleicht konnte er das. Meine Mutter hatte jahrelang ihre eigenen Studien in den Cloisters betrieben, als sie sich auf ihren Magister in Französischer Literatur des Mittelalters am Barnard College vorbereitete, und sich mit vielen Kuratoren und Bibliothekaren angefreundet. Als ich selbst dort gewesen war, um mir Schmuckentwürfe anzusehen, war besonders einer von Mutters alten Freunden sehr hilfsbereit gewesen – der Bibliothekar Dr. Edgar Tolbert, der sich auf die französische Bildersprache des Mittelalters spezialisiert hatte. Ich wusste nicht, ob er noch dort arbeitete, aber falls ja, dann konnte er mir vielleicht sagen, ob meine Mutter besonderes Interesse an Überlieferungen zu einem Wachtturm gezeigt hatte.
Natürlich war mir klar: Selbst dann, wenn ich eine historische Grundlage für Will Hughes’ verrückte Geschichte fand, war ich meinem Ziel, meinen Vater zu entlasten, noch kein Stück näher gekommen, aber irgendetwas brachte mich dazu, den Weg einzuschlagen, der zu den
Cloisters führte. Vielleicht lag es daran, dass mein Vertrauen in beide Eltern heute heftig erschüttert worden war.
Als ich das kleine Rund um den Fahnenmast verlassen wollte, stellte ich fest, dass die Skateboarder inzwischen gegangen waren und mich nun ein Mann in einem roten Kapuzenshirt beobachtete. Oder zumindest sah er in meine Richtung. Er hatte sich die Kapuze so weit ins Gesicht gezogen, dass ich seine Augen nicht sehen konnte. Wahrscheinlich war er harmlos, sagte ich mir, aber trotzdem wollte ich lieber belebtere Gegenden aufsuchen.
Der Weg, der zu den Cloisters führte, war allerdings auch beinahe verlassen. Kurz erwog ich, umzukehren und am Margaret Corbin Circle zur Straße zurückzukehren, aber damit hätte ich meine Gelegenheit vertan, mit Dr. Tolbert zu sprechen. Ich sah mich noch einmal um … und stellte fest, dass der Mann mit dem roten Sweatshirt mir gefolgt und schon recht nahe gekommen war.
Nun beschleunigte ich meinen Schritt und rannte beinahe auf die Rasenflächen rund um die Cloisters zu, auf denen noch einige verspätete Spaziergänger unterwegs waren. Als ich näher kam, stellte ich fest, dass die Leute alle aus dem Museum kamen und sich davon entfernten. Wohin wollte ich gehen, wenn schon geschlossen war? Und wie würde ich meinen Verfolger abschütteln können? Als ich den unteren Eingang erreichte, teilte mir der Pförtner mit, das Haus sei nur noch eine Viertelstunde geöffnet.
»Ich bin eine Freundin von Dr. Edgar Tolbert, einem der Bibliothekare«, presste ich atemlos hervor, »und ich wollte ihn nur kurz sprechen. Wissen Sie, ob er noch da ist?«
Der Pförtner lächelte. »Dr. Tolbert ist immer der Letzte,
der geht. Ich glaube, er hat noch eine Führung in einem der Kreuzgänge. Gehen Sie nur hinein.«
Bevor ich eintrat, sah ich mich noch einmal
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