Black Swan - Silberner Fluch
nach dem Mann in dem roten Sweatshirt um, konnte ihn aber nicht mehr entdecken.
Nun schritt ich durch das lange Gewölbe bis zur Eingangshalle und sagte dem Museumswärter am Empfang, dass ich nach Dr. Tolbert suchte. Er schickte mich in den Cuxa-Kreuzgang. Ich durchquerte den Romanischen Saal und betrat den Kreuzgang durch einen Torbogen, der auf beiden Seiten von zwei geduckten Löwenstatuen flankiert wurde. Dr. Tolbert erkannte ich sofort an seiner schneeweißen Mähne, die ein königliches Gesicht umrahmte. Er hielt einen Vortrag vor einer kleinen Gruppe und deutete zu einer Figur in dem Kapitell einer Säule der Arkaden, die den Innenhof umschlossen. Dankbar dafür, einen Augenblick zum Atemholen zu haben und mich von dem Schrecken zu erholen, den mir mein Verfolger eingejagt hatte, setzte ich mich auf die niedrige Marmormauer, die den Garten umschloss. Es war dumm gewesen, allein in der Dämmerung durch einen städtischen Park zu gehen, aber der Kerl war sicher nichts anderes als ein Straßenräuber, der durch eine einsame, unaufmerksame Frau angelockt wurde. Nun, da ich ins Museum gegangen war, hatte er sicherlich aufgegeben.
Ich holte tief Luft, sah mich im Kreuzgang um und versuchte aus meiner Umgebung Ruhe und Kraft zu schöpfen. Immerhin war das hier ein Ort, den die Mönche früher zum Meditieren aufgesucht hatten. Dieser Kreuzgang hatte ursprünglich zu einem Benediktinerkloster aus dem 12. Jahrhundert gehört. Selbst jetzt, da er Teil eines
New Yorker Museums geworden war, haftete den rosa Marmormauern noch immer die Stille vergangener Jahrhunderte an. Das letzte Abendsonnenlicht lag über dem Innenhof wie Honig, der über Steine floss. Eine Glasscheibe trennte die Arkaden vom Garten in der Mitte, aber dennoch wärmte die Sonne die Mauer. Ich lehnte mich dagegen und betrachtete die Figuren, die in die Säulen gemeißelt worden waren. Fantastische Kreaturen verschlangen andere Tiere und Menschen. In Kunstgeschichte hatte ich gelernt, dass diese Motive den Widerstreit zwischen Gut und Böse repräsentierten und die Mönche daran erinnern sollten, gegenüber den Mächten der Dunkelheit stets wachsam zu bleiben. Ganz offensichtlich hatte im Kampf der Marmorgeschöpfe gerade die falsche Seite die Oberhand erlangt.
»Eine besonders beeindruckende Sammlung tödlicher Ungeheuer findet sich auf diesem Torbogen aus dem 12. Jahrhundert aus Narbonne«, hörte ich Dr. Tolbert sagen, der sich nun dem Platz näherte, wo ich saß. Die Gruppe versammelte sich unter dem Durchgang, durch den ich den Kreuzgang betreten hatte, und Dr. Tolbert beschrieb die Sammlung mythischer Geschöpfe, die sich auf ihm tummelten. Nachdem er Greifen, Harpyien und Zentauren erläutert hatte, verharrte sein Stock auf dem ersten Fabelwesen, das linker Hand auf dem Torbogen zu sehen war. Ein kleiner Junge hatte sich ein wenig von der Gruppe entfernt, und Dr. Tolbert sprach nun besonders laut in seine Richtung: »Und hier ist ein Ungeheuer, das direkt aus deinen Alpträumen kommt!« Der Junge wandte sich um und sah zu der Figur empor.
»Das hier ist ein Mantikor – ein Geschöpf mit dem Gesicht
eines Mannes, glühend roten Augen, drei Reihen Zähnen und einem Schwanz, der mit dem tödlichen Stachel eines Skorpions versehen ist. Der Mantikor springt so kraftvoll wie ein Löwe, und seine Klauen sind ebenso scharf.« Dr. Tolbert beugte sich zu dem Jungen hinab, der nun gebannt zuhörte. »Das einzig Gute, was man über den Mantikor sagen kann, ist, dass er eine wunderschöne Stimme hat – wie eine Flöte. Aber lass dich besser nicht von seinem Lied einlullen, denn den Mantikor gelüstet es nach Menschenfleisch.«
»Wie ein Zombie!«, rief der Junge und erschauerte vor wohligem Entsetzen. Die Gruppe lachte, und Tolbert verabschiedete sich. Ich wartete, bis der letzte Besucher gegangen war, bevor ich zu dem Bibliothekar hinüberging.
»Margaret James!«, rief er aus, legte mir den Arm um die Schulter und zog mich an sich, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. Als er mich dann auf Armeslänge von sich weg hielt, sah ich, dass seine blauen Augen feucht waren. »Oh, mit jedem Tag gleichen Sie Ihrer Mutter mehr. Gerade heute musste ich an sie denken … was war es nur, das mich an sie erinnert hat?«
»Der Artikel in der Times vielleicht, in dem es um den Einbruch in der Galerie ging?«, vermutete ich.
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Nein! Die Galerie wurde ausgeraubt? Davon habe ich nichts mitbekommen. Das tut mir schrecklich leid.
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