Black Swan - Silberner Fluch
zitierte unter anderem ein Alba aus dem 12. Jahrhundert – eine traditionelle Form des Minnesangs, in der ein Liebender sein Bedauern über den heraufziehenden Morgen kundtut.
Singet nun die Nachtigall
weile ich bei der Geliebten
durch die süß duftend Nacht
bis unser Wächter von dem Turme
ruft: »Liebende, erwacht!«
Die Nachtigall, sie singt nicht mehr,
die Lerche ist’s,
die nun das Morgenlicht begrüßt.
Das Gedicht war mit einem Holzschnitt illustriert, der einen Wachtturm darstellte, unter dem sich zwei Liebende umschlungen hielten, während sich ein Wachmann aus einem Turmfenster beugte und zu ihnen hinabrief. Der Artikel an sich war interessant, und ich verstand, wieso er Dr. Tolbert an meine Mutter erinnert hatte, die ihre Sommer in einem Dorf im französischen Süden verbracht hatte, aber der Text enthielt keinen Hinweis auf einen uralten Wächterorden.
Ich legte die Zeitschrift beiseite und wandte mich dem Buch zu … und erstarrte, als ich den Titel las: John Dee und die Vier Wachttürme . Das war sicher nur ein seltsamer Zufall, versuchte ich mir einzureden, dass dieser elisabethanische Alchemist in einem Atemzug mit dem Symbol genannt wurde, das Hughes zufolge Teil der Geschichte meiner Mutter war. Letzten Endes war Hughes derjenige, der diesen Zusammenhang überhaupt erst geschaffen hatte.
Noch bevor ich zu der Stelle blätterte, die Dr. Tolbert markiert hatte, überflog ich schnell die ersten Kapitel, um ein wenig mehr über John Dee herauszufinden. Der Wikipedia-Eintrag zu seiner Person hatte mir nur verraten, dass er der Hofastronom von Königin Elisabeth I. gewesen war. Nun erfuhr ich, dass er die größte Bibliothek seiner Zeit in Europa zusammengetragen, an der Universität von Paris Algebra unterrichtet und den Begriff »Britisches Empire« geprägt hatte. In seinen späteren Jahren wandte er sich dem Übernatürlichen zu und versuchte mit Hilfe eines Mediums namens Edward Kelley Kontakt zu Engeln aufzubauen. Unter König Jakob I. fiel er in Ungnade und starb angeblich verarmt auf seinem Anwesen
in Mortlake, obwohl es keine Sterbeurkunde und auch keinen Grabstein mit seinem Namen auf dem Friedhof von Mortlake gab.
Als ich die markierte Seite aufschlug, fand ich eine Illustration der vier Wachtürme, von denen Dee durch die Lehren der »Engel« erfahren hatte, die Kelley für ihn kontaktiert hatte. Jeder von ihnen war einem Element zugeordnet: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Ich las das ganze Kapitel, meine Augen glitten ungeduldig über die blumige Ausdrucksweise und die ausführlichen Schilderungen, die sich Edward Kelley hatte einfallen lassen, fand aber nichts über ein Geschlecht von Wächterinnen. Gerade wollte ich das Buch beiseitelegen, als sich zwischen den Seiten eine vergilbte Karteikarte löste und zu Boden fiel. Schnell beugte ich mich vor und hob sie auf … und hörte ein leises Geräusch die Treppen hinaufdringen. Kurz verharrte ich und lauschte, ob etwa Dr. Tolbert nach mir rief, aber es war keine Stimme, es war Musik. Eine Flöte spielte eine betörende Melodie. Vielleicht war für den heutigen Abend ein Konzert geplant.
Dann nahm ich die Karteikarte zur Hand. Sie zeigte einen Wachtturm, über dem ein Auge schwebte, und unter der Zeichnung stand: Quis custodiet ipsos custodes? Dasselbe Bild wie auf Will Hughes’ Ring – von dem er behauptet hatte, dass er einmal einem meiner Vorfahren gehört hatte. Doch etwas anderes erstaunte mich noch viel mehr – die Handschrift. Sie sah aus wie die meiner Mutter.
Ich drehte die Karte um. In der oberen rechten Ecke prangte die Zahl 303, und ich vermutete, dass sie sich auf die Seite in dem Buch bezog, das ich in Händen hielt.
Also schlug ich Seite 303 auf und entdeckte, dass das vergilbte Papier dort einen geisterhaft weißen, rechteckigen Fleck aufwies – einen Fleck von der Größe der Karteikarte. Da ich die Angewohnheiten meiner Mutter kannte, ging ich davon aus, dass sie die Karte unter den Zeilen abgelegt hatte, die sie interessant fand, und daher las ich die Passage direkt über dem weißen Rechteck.
Auf den vier Wachttürmen an den Ecken der Schöpfung wachten die Wächter über die Menschheit, aber sie ließen sich von der Schönheit der Frauen verführen und stiegen zur Erde herab, um sich zu ihnen zu legen. Als Dank für ihre Gunst lehrten die Wächter ihre Beischläferinnen Flüche und Zaubersprüche und verschiedentlich esoterische Künste.
Wieder sah ich auf die Karteikarte. Unter die Seitenzahl
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