Black Swan - Silberner Fluch
Wurde jemand verletzt?«
»Mein Vater wurde angeschossen, aber er wird es überstehen …« Ich brachte es nicht über mich, ihm zu sagen, dass man Roman selbst der Mittäterschaft verdächtigte. »Aber wenn es nicht der Artikel über den Einbruch war, weswegen haben Sie dann an meine Mutter gedacht?«
Die Frage lenkte ihn davon ab, sich eingehender nach dem Raub zu erkundigen. Er schloss die Augen und klopfte sich mit zwei Fingern gegen die Stirn, so wie ich auf das Touchpad meines Laptops tippte, um ihn aus dem Standby-Modus zu wecken. »Es war ein Artikel in einer Zeitschrift«, sagte er schließlich, als er die Augen wieder öffnete. »Er ist in der Bücherei im oberen Stockwerk. Haben Sie Zeit, mitzukommen und ihn sich anzusehen?«
»Ja, natürlich. Wissen Sie … eigentlich kam ich, um Sie etwas zu fragen. Es geht um meine Mutter und die Recherchen, die sie hier angestellt hat.«
»Oh, da haben wir ja Glück. In dem Artikel ging es nämlich um eines ihrer Lieblingsthemen – um den Wachtturm in der mittelalterlichen Bilderwelt.«
Während Dr. Tolbert mich wieder durch die Eingangshalle führte, erklärte ich ihm, dass ich alle Unterlagen über mittelalterliche Wachttürme sehen wollte, die meine Mutter bei ihren Studien verwendet hatte.
»Ja, ich glaube, in einem meiner Bücher, das sie damals benutzte, wird ein Wachtturm erwähnt«, sagte er, während er dem diensthabenden Museumswärter zuwinkte, der sich in den Feierabend verabschiedete. Der Wachmann führte die letzten Besucher nach draußen; das Museum schloss gleich. Aber offenbar war man daran gewöhnt, dass Dr. Tolbert länger arbeitete. Er schloss ein mit Eisenspitzen versehenes Tor auf und führte mich zwei Treppen hinauf. Einige seiner Kollegen kamen uns entgegen und wünschten ihm einen schönen Abend. Dann betrat er vor mir einen quadratischen Raum mit Tonnengewölbedecke, der an allen vier Seiten von Bücherregalen
eingefasst wurde. Lange Holztische standen in der Mitte, und hoch oben an der gewölbten Mauer gegenüber der Tür befand sich ein rundes, bleiverglastes Fenster, das schwach vom schwindenden Tageslicht erhellt wurde. In seiner Mitte befand sich ein Kreis aus farbigem Glas, in dem eine geflügelte Figur eine Trompete hob – einer der Engel der Apokalypse blies zum Jüngsten Gericht.
»Setzen Sie sich doch, während ich nach diesem Artikel suche«, sagte Dr. Tolbert. »Ich glaube, es war im Comitatus … oder in Mittelalterliche Studien … hm … vielleicht liegt die Zeitschrift noch in meinem Büro …«
Seine Stimme wurde leiser, als er die Bibliothek verließ und den Flur hinunterging. Ich setzte mich an das Ende eines der langen Tische und schaltete die letzte in der Reihe grünbeschirmter Lampen an. Die Stühle waren genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte – breite, U-förmige Rahmen, die mit einem verblichenen, grünen Samtstoff bezogen und mit dekorativen Messingnägeln beschlagen waren. Sie erinnerten mich immer an den Stuhl, in dem Lawrence Olivier als grübelnder Hamlet gesessen hatte. Falls der genauso ungemütlich gewesen war, dann verstand ich, wieso Hamlet ständig aufstand, um durch die Flure von Schloss Elsinore zu spuken.
Dr. Tolbert kehrte nun mit der Zeitschrift und einem dicken Buch mit Leineneinband zurück.
»Das ist eines der Bücher, in denen Ihre Mutter nach der Wachtturm-Symbolik recherchiert hat. Leider kann ich Ihnen nicht erlauben, es auszuleihen, aber Sie können es sich gern hier in der Bibliothek genauer ansehen.«
»Ich möchte Sie aber nicht aufhalten«, sagte ich und nahm ihm den schweren Band ab.
»Oh, das tun Sie nicht. Ich wollte ohnehin im Cuxa-Kreuzgang noch ein wenig schreiben.«
»Sie schreiben im Kreuzgang?«
»Ja. Ich finde es dort sehr friedvoll, wenn die Besucher weg sind. Die Museumswärter lassen mir meine exzentrischen Launen. Wenn Sie fertig sind, lassen Sie die Bücher einfach hier liegen und kommen Sie zu mir herunter. Wenn Sie Lust haben, könnten wir gemeinsam einen Kaffee trinken gehen. In Inwood hat kürzlich das Indian Road Café eröffnet, das ist sehr gemütlich.«
»Sehr gern. Ich bin sicher in einer Stunde fertig.«
»Keine Eile, keine Eile«, beruhigte er mich in singendem Tonfall und verließ die Bibliothek.
Seine Stimme verebbte, als er die Stufen hinabging und ich mich den Materialien zuwandte, die er mir mitgebracht hatte. Der mit Haftnotizen markierte Zeitschriftenartikel handelte von der Rolle des Wächters in der provenzalischen Dichtung und
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