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Black Swan - Silberner Fluch

Titel: Black Swan - Silberner Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Carroll
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hatte meine Mutter geschrieben: Trotz der irreführenden Bezeichnung Beischläferin vielleicht ein Echo der Wachtturm-Tradition unseres Volkes. Das Wort, das mich dabei am meisten überraschte, war unseres . Meine Mutter hatte also wirklich von einer Tradition gewusst, die irgendetwas mit einem Wachtturm zu tun hatte – und sich nicht allein aus Studienzwecken dafür interessiert (und sie hätte es ganz sicher nicht geschätzt, wenn man ihre Vorfahren als Beischläferinnen bezeichnet hätte!). Es war offenbar eine Tradition ihrer Familie (das war es, wie ich vermutete, was sie mit unser Volk meinte), von der sie mir jedoch nie berichtet hatte. Ich erinnerte mich an all die Abende, an denen sie mir Gutenachtgeschichten erzählt hatte – die alten klassischen französischen Märchen wie »Die Schöne und das Biest« oder »Aschenputtel«, aber auch seltsame
keltische Sagen von Seehunden, die sich in junge Mädchen ver wandelten, und von jungen Frauen, die zu Schwänen wurden und in einem Zauberland lebten, das sie Sommerland oder Das Schöne Land nannte, wo stets Sommer war und niemand jemals alterte. Wieso hatte sie mir nie von den Türmen erzählt? Unwillkürlich fühlte ich mich betrogen.
    Sorgfältig sah ich nach, ob noch andere Karten in diesem Buch steckten, aber ich fand keine. Dann zog ich mein Notizbuch hervor, schrieb den Absatz von Seite 303 ab und steckte die Karteikarte meiner Mutter ein. Dr. Tolbert würde sicherlich nichts dagegen haben, wenn ich sie an mich nahm. Schließlich hatte sie meiner Mutter gehört. Aber ich würde sie ihm zeigen und ihn fragen, ob er weitere Informationen über diese Wachtturmgeschichte besaß – und auch, ob er noch mehr über meine Mutter wusste. Vielleicht gab es einen Grund, weshalb sie mir diese Geschichte nie erzählt hatte – ein schändliches Familiengeheimnis vielleicht, das sie mir hatte vorenthalten wollen.
    Doch nun wollte ich ihn nicht länger warten lassen. Selbst wenn er noch etwas zu tun hatte, ich konnte mir nicht vorstellen, dass es für einen Mann seiner Jahre gut war, lange auf einer kalten Steinmauer in einem zugigen Kreuzgang zu sitzen. Und es war kalt. Offenbar wurde die Heizung heruntergefahren, wenn das Museum schloss, dachte ich, als ich meine Jacke anzog, mir den Riemen meiner Umhängetasche über den Kopf schob und ihn über meiner Brust geraderückte. Dann richtete ich das Buch und die Zeitschrift ordentlich an einem roten Lichtstrahl aus, der auf den Tisch fiel. Als ich aufsah, stellte ich
fest, dass das Licht vom Heiligenschein des Engels in dem Buntglasfenster stammte … aber wie konnte das sein? Ich sah auf die Uhr. Es war sechs, und die Sonne war schon vor einer guten Stunde untergegangen. Was für ein Licht fiel da durch das Fenster?
    Vermutlich war es eine Kontrollleuchte, die etwas mit der Gebäudesicherung zu tun hatte, sagte ich mir, als ich den Raum verließ. In der Halle blickte ich aus einem Fenster, ob ich draußen irgendwelche Lichter entdecken konnte, aber ich sah überhaupt nichts; dichter Nebel hüllte das Gebäude ein. Noch mehr seltsame Wetterphänomene? Eilig ging ich die Treppe hinunter und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich nicht allein war. Im Museum waren noch Angestellte unterwegs und auch Dr. Tolbert … und ein paar Musiker, wie mir wieder einfiel, als die Flöte wieder einsetzte. In der Eingangshalle sah ich mich nach dem Wachmann um, der dort zuvor am Empfang gestanden hatte, aber der Tresen war leer. Also wandte ich mich um und ging zum Cuxa-Kreuzgang, aus dem die Musik drang.
    Als ich unter dem Narbonne-Torbogen hindurchschritt, war der Kreuzgang an sich dunkel, aber hinter dem Glas, das nun von kondensierter Feuchtigkeit beschlagen war, schien der Garten im Innenhof von einem seltsamen, gelben Schein erhellt. Dr. Tolbert saß vor dem Glas und hob sich als dunkle Silhouette vor dem Licht ab. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber er hatte den Kopf leicht zu dem Torbogen erhoben, durch den ich gerade gekommen war.
    »Studieren Sie noch immer Ihre Fabelwesen, Dr. Tolbert?«, fragte ich und trat auf ihn zu.

    Er antwortete nicht und wandte sich auch nicht zu mir um.
    Noch ein Schritt, und ich bemerkte den Ausdruck des Entsetzens, der in seine Züge gemeißelt war.
    »Dr. Tolbert!«, rief ich aus, lief nun auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Hals. Ich fühlte keinen Puls … und seine Haut war bereits kühl. Vorsichtig berührte ich seine Hand, die noch immer den Stock umklammert hielt. Seine Finger

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