Black Swan - Silberner Fluch
erschauderte.
»Nein, nicht jedem. Man muss einen Hauch des Unirdischen in sich haben, um das zu sehen, was Sie jetzt sehen. Bei Ihnen ist das so … bei vielen Künstlern, bei Dichtern, Malern …«
»Ich bin keine Künstlerin«, sagte ich reflexartig. »Aber
es erinnert mich an ein Gemälde, an Van Goghs Sternennacht . So muss Van Gogh die Nacht gesehen haben.«
»Der arme Vincent. Er verliebte sich in die Farben der Nacht. Für ihn wurden sie zur Droge. Er wurde süchtig danach. Schließlich verlor er darüber den Verstand.«
Erst wollte ich ihn fragen, ob er den Maler wirklich gekannt hatte, aber dann fiel mir etwas anderes ein. »Was meinten Sie mit dem Hauch des Unirdischen ? Elfen? Feen?«
Er lachte, und das Geräusch ließ Lichtfünkchen von seinen Fingerspitzen aufstieben. »Sagen Sie jetzt nicht, nachdem Sie heute Abend einem Mantikor und einem Vampir begegnet sind, würden Sie sich über Feen und Elfen wundern? Sehen Sie nur einmal richtig hin. Sie sind überall um uns herum.«
Wir hatten den Heidegarten erreicht, wo ich meinen Spaziergang heute Abend begonnen hatte – oder war es schon gestern gewesen? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, seit wir durch den Park gewandert waren. Zunächst sah ich nur wilde Wirbel aus Licht und Farben zwischen den letzten noch blühenden Pflanzen. Aber dann erkannte ich, dass Gestalten durch das Licht huschten, so schnell, dass ich sie nur aus dem Augenwinkel sah: ein anmutig geschwungenes Lächeln, eine gerundete Hüfte, plötzlich aufblitzende Flügel, die durch die Luft sirrten.
»Sie sind viel zu schnell für mich!«, jammerte ich.
»Nein, Sie selbst sind zu schnell. Sie müssen Ihren Herzschlag verlangsamen.« Rasch trat er hinter mich, legte mir den Arm um die Schultern und schob mir die Hand unter den Pullover, direkt über mein Herz. Ich spürte, wie der Puls an seinem Handgelenk leise pochte, und dann
hörte ich den Schlag meines eigenen Herzens wie eine Antwort. Mein Blut , dachte ich wieder, es ist mein Blut, das in seinen Adern fließt. »Atme ganz langsam ein und aus«, flüsterte er mir ins Ohr, sein Atem fuhr über meinen Nacken und über die noch nicht verschlossene Wunde, die seine Zähne hinterlassen hatten. Beinahe hätte ich die Augen geschlossen, aber dann sah ich eine von ihnen . Ein kleines Geschöpf löste sich aus den Farben der Nacht – Indigo, Violett, Silbern – und glitt auf blau geäderten Flügeln zwischen dem Heidekraut hin und her, nahm die Farben, auf denen es landete, in sich auf, beugte das winzige, fuchsartige Gesichtchen in jede glockenförmige Blüte. Erst dachte ich, es würde den Nektar trinken, wie eine Biene oder ein Kolibri, aber dann erkannte ich, dass es vielmehr die Farben aufsaugte. Wenn sich das Gesicht in einen der Blütenkelche senkte, vibrierte der durchscheinende Körper in der Farbe des Heidekrauts.
Wieder sah ich Will Hughes an. »Ist das alles real? Oder gibst du mir all diese Bilder ein?«
»Sie sind echt«, antwortete er. »Man nennt sie Lichtsylphen, weil sie das Licht trinken. Sie können jedoch nur nachts fliegen – bei Tage würden sie ertrinken.«
Das Geschöpf sah von seiner Blüte zu uns herüber, den Mund lila verschmiert, und unsere Blicke trafen sich. Dann legte es den Kopf schräg und bewegte die Lippen, als wolle es lächeln, aber stattdessen verzog es den Mund zu einer gehässigen Grimasse, bei dem es seine nadelspitzen Zähnchen zeigte, und flog davon.
»Warum …?«
»Das hat nichts mit dir zu tun«, erklärte Will. »Sie haben nicht vor dir Angst, sondern vor mir. Die Lichtsylphen
mögen uns Vampire nicht besonders, aber da wir uns die Nacht teilen müssen, gehen wir uns meistens aus dem Weg.«
Er führte mich den Hügel hinab. Da ich nun wusste, dass zahnbewehrte Geschöpfe durch die Nacht flogen, blieb ich nahe bei ihm – schließlich hatte er die größten Zähne.
»Du hast vorhin gesagt, dass nur jemand mit einem Hauch des Unirdischen all das hier sehen könnte«, sagte ich. »Woher hast du gewusst, dass es bei mir so sein würde?«
»Weil du von Marguerite D’Arques abstammst. Und sie war eine von denen .« Er erschauerte, als er das letzte Wort aussprach. Was jagte einem Vampir wohl Angst ein? Dann fiel mir etwas anderes ein – Vampire konnten ewig leben, oder? Und er hatte schon in so vertraulichem Ton von Vincent Van Gogh gesprochen …
»Hast du die erste Marguerite gekannt?«
Wir hatten eine Mauer erreicht, von der aus man auf den Fluss und den Henry Hudson
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