Black Swan - Silberner Fluch
aufzustöhnen.
»Was hast du mit mir gemacht?«, fragte ich.
Sanft streichelte er meinen Hals, mein Haar, dann hob er mit einem Finger mein Kinn. »Ich habe es auch mit mir gemacht. Nun, da ich dein Blut getrunken habe, sind wir miteinander verbunden. Das kann ich nicht ändern. Das Gute daran ist, dass es deinen Unirdischenblick geweckt hat. Den wirst du brauchen, wenn Dee wieder hinter dir her ist …«
»Wieder?«, fragte ich entsetzt. Welche Ungeheuer würde er noch auf mich loslassen?
»Ja. Er wird jetzt nicht aufhören. Er weiß, dass du versuchen wirst, ihm das Kästchen abzujagen.«
»Und wenn ich das gar nicht will? Wenn ich es ihn einfach behalten lasse?«
Er warf mir einen langen, prüfenden Blick zu. »Ich glaube nicht, dass du in einer Welt leben willst, wie Dee sie mit Hilfe der Macht, die ihm die Schatulle verleiht, erschaffen würde. Obwohl er sie jahrhundertelang nicht öffnen konnte, hat Dee unglaublich viel Unheil angerichtet – er war dabei, als Cromwell 1649 König Karl hinrichten ließ und die Macht an sich riss, und er sorgte durch seine Hexerei Mitte des 19. Jahrhunderts für die Kartoffelfäule in Irland. Es war einer seiner Schattenmänner, der Erzherzog Franz Ferdinand erschoss, und er saß an Hitlers Seite und flüsterte ihm Böses ein.«
»Aber warum? Was hat er davon, so viel Schrecken in der Welt auszulösen?«
Will schüttelte nachdenklich den Kopf. »Da war ich mir niemals wirklich sicher. Er scheint aus Chaos und Entsetzen eine gewisse Kraft zu ziehen. Mit jedem Krieg, jedem Völkermord und jeder Grausamkeit wird er stärker … und nun, da er die Schatulle hat, besitzt er mehr Macht denn
je. Er wird sie dazu nutzen, die Dämonen der Zwietracht und Verzweiflung herbeizurufen.«
»Vielleicht ist es schon zu spät«, sagte ich.
»Nun spricht die Verzweiflung aus dir«, wehrte er ab. »Nein. Für Dee war es nur ein erster Schritt, die Schatulle zu öffnen. Das konnte er nicht selbst tun, dazu benötigte er eine Nachfahrin Marguerites. Er hat jahrhundertelang darauf gewartet, dass eine von ihnen nicht wissen würde, dass dieses Kästchen auf ewig verschlossen bleiben muss, und dann hat er dich dazu gebracht, es in seiner Abwesenheit aufzuschweißen. Erinnerst du dich an das Licht, das aus dem Kästchen drang? Dee wäre daran zugrunde gegangen. Er musste seine willenlosen Untergebenen schicken, um es dann zurückzuholen. Selbst jetzt noch ist es für ihn gefährlich, der Schatulle zu nahe zu kommen, wenn sie offen ist, aber er muss sie sieben Tage lang geöffnet halten, um die Dämonen der Zwietracht und Verzweiflung in diese Welt zu rufen. Du hast das Kästchen vor zwei Tagen entsiegelt – also hast du nur noch fünf Tage, um ihn zu finden und das Ding wieder zu schließen, ansonsten werden sich Zwietracht und Verzweiflung der Stadt bemächtigen.«
Ich starrte ihn an und versuchte gleichzeitig, all diese fantastischen Informationen zu verarbeiten. Zu akzeptieren, dass es eine Welt übernatürlicher Geschöpfe gab, war das eine – aber daran zu glauben, dass ich eine derart wichtige Rolle darin spielen sollte, war etwas völlig anderes.
»Aber wie du schon gesagt hast, wurde ich niemals ausgebildet. Meine Mutter starb, bevor sie mir beibringen konnte, was getan werden muss …« Meine Augen füllten
sich mit Tränen. Die Schatten, die uns umgaben, schienen näher zu rücken. Ein Hauch von Kupfer lag in der Luft, und ich hörte aus dem Gebüsch ein leises Zischen. Armes Waisenkind , schien es zu sagen, armes mutterloses Kind .
Will packte mich an den Schultern und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Du kannst dich nicht der Verzweiflung ergeben. Das ist sein Wirken. Es gibt andere, die dich lehren können, Wächter . Sie sind um dich herum. Du musst nur die Augen aufhalten, und du wirst sie erkennen.«
»Aber kannst du mir denn nicht helfen?«, fragte ich, und verabscheute sofort selbst den quengelnden Ton in meiner Stimme. Wenn er sich angeekelt von mir abgewandt hätte, ich hätte es ihm nicht verübelt.
»Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, indem ich dir die Augen geöffnet habe. Das war mehr, als ich hätte tun sollen. Du musst dir andere Lehrer suchen. Aber ich verspreche dir, ich werde dich beschützen, wenn ich kann …« Er hielt inne und neigte lauschend den Kopf. Auch ich spitzte die Ohren, aber ich hörte nur den Gesang eines Vogels – eine reine, süße Melodie, die mich an das französische Gedicht erinnerte, das ich nur wenige Stunden
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