Black Swan - Silberner Fluch
aufhörte. Ein grauer Schimmer, ungefähr zwei Zentimeter dick, umgab sie wie eine zweite Haut.
Der Bettler vollführte eine zweite Pirouette, und dieses Mal ließ die Frau sich auf seine Kapriolen ein und lächelte. Das Grau verwandelte sich in Himmelblau. Sie suchte in ihrem Portemonnaie nach einigen Münzen und warf sie in den Pappbecher, woraufhin der Bettler seinen Hut lüpfte und sich tief verbeugte, bis sie beide ein dichtes Farbfunkeln umgab. Als ich mich umsah, um zu prüfen, ob
außer mir noch jemand diesen Funkenregen bemerkte, sah ich, dass alle anderen diesen Austausch beflissen ignorierten. Nun erkannte ich auch, dass jeder der Anwesenden von einem leichten Schimmer umgeben war, wie ein Heiligenschein, der jeweils eine unterschiedliche Farbe hatte. Bei vielen war dieser Schimmer schwach und gedämpft, bei einigen eingetrübt. Diese Phänomene hatte ich früher schon gesehen, sie allerdings als Symptome meiner Migräne abgetan.
Mein Yogalehrer hatte oft über das Thema Aura gesprochen, wie man seine eigene und die anderer Menschen sehen und wie man anhand dessen erkennen konnte, ob jemand ausgeglichen und glücklich war oder deprimiert und krank. Eigentlich hatte ich so etwas für esoterischen Unsinn gehalten, aber andererseits hatte ich auch einmal im örtlichen Computergeschäft darauf gewartet, dass mein Laptop repariert wurde, und ein Mann, der eine Weile neben mir gesessen hatte, fragte mich schließlich: »Sind Sie Künstlerin?«
Diese Frage hielt ich zunächst für eine Anmache, aber seltsam daran war, dass ich gerade an diesem Tag sehr konservativ gekleidet war, weil ich anschließend noch mit meinem Vater zu einer Auktion bei Sotheby’s gehen wollte. An meiner Kleidung oder meinen Accessoires ließ sich kein Hinweis auf ein künstlerisches Umfeld erkennen.
Ich sagte ihm, ich sei zwar keine Künstlerin, würde aber Schmuck entwerfen und hätte mich auch schon an Malerei und Bildhauerei versucht.
»Sie sind eine Künstlerin«, hatte er daraufhin erklärt, »das erkenne ich an Ihrer Aura.«
Wir hatten uns dann noch eine Weile unterhalten – er
unternahm keinen Versuch, mich anzumachen oder mich um einen Gefallen zu bitten -, bis meine Nummer aufgerufen wurde. Meine gute Stimmung hielt an, obwohl ich erfuhr, dass es achthundert Dollar kosten würde, den Schaden an der Festplatte zu beheben, der dadurch entstanden war, dass am vergangenen Abend ein Glas Weißwein in das Gerät gelaufen war.
Als ich nun in die U-Bahn stieg und mich auf einen freien Platz setzte, grübelte ich darüber nach, was er wohl damals gesehen hatte. So ein grünes Schimmern, wie es die junge Frau hispanischer Abstammung umgab, die mir in OP-Kleidung und Turnschuhen mit dicker Sohle gegenübersaß? Oder ein gelbes Flackern, wie es von einem hübschen, dunkelhaarigen Mädchen ausging, dessen Kopf zur Musik seines iPods auf und ab wippte? Ich hoffte, dass es nicht das düstergraue Miasma gewesen war, wie es den älteren Mann umgab, der sich in einen Mantel hüllte und eine ebenfalls graue Hautfarbe hatte, oder das Senfgelb, das über dem Kopf einer älteren Frau schwebte, die jedes Mal, wenn die Bremsen quietschten, schmerzerfüllt das Gesicht verzog und sich mit der Hand an die rechte Schläfe fuhr. Es war leicht zu erkennen, wem es gutging und wer krank war, wer glücklich und wer von Verzweiflung erfüllt. Außerdem fiel mir auf, dass sich manchmal die Auren der Menschen berührten und sich dann bei beiden veränderten.
Das entdeckte ich zum ersten Mal an der Haltestelle an der 175th Street. Der Zug füllte sich allmählich, und als ein Mann mittleren Alters in einem braunen Regenmantel einstieg, war kein Platz mehr frei. Als er nach dem Haltegriff über seinem Kopf fasste, verzog er vor Schmerz das
Gesicht. Er war noch nicht so alt, dass andere ihm sofort einen Platz angeboten hätten, aber ganz offensichtlich ging es ihm nicht gut. Er war von einer dunkelroten Wolke umgeben – einem blutigen Nebel, der ihn ganz und gar einzuhüllen schien. Mir fiel auf, dass einige Leute, die ihm nahe kamen, sich eilig von ihm entfernten, als hätten sie Angst, sich anzustecken. Gerade wollte ich meinen Sitz für ihn frei machen, als die Krankenhausangestellte aufstand und ihn sanft am Arm berührte. Er starrte sie so zornig an, dass ich erst fürchtete, er wollte sie schlagen, aber sie verstärkte ihre Berührung mit sanftem Druck und deutete mit der anderen Hand auf ihren freien Platz. Er murmelte halblaut etwas, blickte immer
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