Black Swan - Silberner Fluch
noch finster drein, aber er setzte sich, und als er sich zurücklehnte, sah ich, dass das zornige Dunkelrot einem blassen Rosa wich. Die Frau, die ihm Platz gemacht hatte, war noch immer von dem grünen Leuchten umgeben, aber jetzt steigerte es sich noch und breitete sich weiter um sie aus. Es berührte auch die ältere Frau mit den Kopfschmerzen und verwandelte ihr Senfgelb in ein klares Narzissengold. Das Mädchen, das mit der gelben Aura eingestiegen war, sang eine Zeile des Liedes mit, das sie gerade hörte, und nun lachte der graue Mann laut auf. Farben schwappten durch den Wagen, wurden heller und klarer, als ob diese eine Sache, dass die Frau in der OP-Kleidung den Arm des kranken Mannes berührt und ihm ihren Platz angeboten hatte, wie ein Kiesel in einen stillen Teich gefallen war und Schwingungen ausgelöst hatte, die immer größere Kreise zogen. Ich fragte mich, wie weit sie reichen würden, und ob ihre Ausbreitung überhaupt aufzuhalten war. Das sollte ich bald herausfinden.
An der 168th Street stieg die Krankenhausangestellte aus – wahrscheinlich arbeitete sie im New York Presbyterian Hospital -, und es wurde noch voller. Ein übergewichtiger Mann verlor das Gleichgewicht und stieß gegen die Knie des grauen Mannes, der etwas Abfälliges über Dicke vor sich hin brummte. Der Übergewichtige wurde rot, seine Aura nahm ein flammendes Magenta an, und er drängte sich weiter durch den Wagen, wobei er mit dem Ellenbogen gegen eine gut gekleidete Frau stieß, die ein grimmiges Gesicht zog und schwefelgelbe Funken aufstieben ließ, die wie dunkler Rauch durch die Luft schwebten. Ich fühlte, wie die Spannung wuchs, und dachte ernsthaft darüber nach, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und mir ein Taxi zu rufen, aber um diese Tageszeit würde es ewig dauern, bis nach Downtown zu kommen, und zudem ein Vermögen kosten. Mit dem Gedanken an die hohen Taxigebühren kehrten die Geldsorgen zurück. Die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten diese weltlichen Sorgen in den Hintergrund gedrängt, aber wenn sich der Staub gelegt hätte, würden wir noch immer mit horrenden Schulden dasitzen. Und es würde der Galerie sicherlich nicht helfen, wenn mein Vater des Versicherungsbetrugs verdächtigt würde. Auch fragte ich mich, was mit den Gemälden geschah, die die Polizei bei den Dieben sichergestellt hatte. Würde man sie als Beweisstücke zurückhalten? Oder würden wir sie verkaufen können, wenn ein gutes Angebot kam?
Angestrengt mühte sich mein Verstand mit all den komplizierten Möglichkeiten ab. Die Vorstellung, dass ich auserwählt sein sollte, um die Welt vor dem bösen John Dee zu retten, kam mir absurd vor – sogar noch absurder, als an
die Existenz von Mantikoren, Vampiren und Elfen zu glauben. Es würde mir nicht gelingen, mich und meinen Vater vor dem finanziellen Ruin zu bewahren. Auch Edgar Tolbert hatte ich nicht retten können. Eine große Welle der Scham überkam mich, als ich an ihn dachte. Hier saß ich und ließ mich von Elfen und Aurafarben unterhalten, und erst gestern war wegen mir ein Mann gestorben. Was war ich nur für ein Ungeheuer? Und wie konnte jemand, der so mickrig und selbstsüchtig war wie ich, etwas gegen einen so mächtigen Menschen wie John Dee tun?
Als der Zug den Bahnhof an der 14th Street erreichte, umfing mich dieselbe zähe Düsternis, die ich um mich herum erblickte. Meine Stimmung wurde nicht besser, als ich die Treppen zur Straße emporstieg. Der Tag, der so freundlich begonnen hatte, war inzwischen grau und verhangen. Die Menschen, an denen ich vorüberkam, waren in ihre Mäntel eingehüllt und eilten mit gesenkten Köpfen an mir vorüber, die Augen aufs Pflaster gerichtet, während ein brauner oder grauer Dunst über ihnen schwebte.
Im Krankenhaus war es noch schlimmer. Als ich das Portal des St. Vincent’s erreichte, trat gerade eine Frau vor die Tür, blass und ausgezehrt wirkend. Sie barg das Gesicht in den Händen und wandte sich still zur Mauer. Der Mann, der ihr gefolgt war, stand hilflos neben ihr und hob zwar den Arm, um sie tröstend zu streicheln, verharrte aber unschlüssig in seiner Bewegung. Ich wusste nicht, welch schreckliche Nachricht sie gerade bekommen haben mochten, aber ich schmeckte ihr Leid in meinem Mund wie Kupfer und Blut.
Das ganze Krankenhaus roch so. Schon im Eingangsbereich überschwemmte mich eine solche Welle von Angst
und Verzweiflung, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Die Menschen in den Wartezimmern waren in
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