Black Swan - Silberner Fluch
sieh dir das an! Sie sieht genauso aus wie damals, als ich sie kennenlernte …« Er runzelte die Stirn. »Wie konnte Santé sie so porträtieren?«
»Ober… Obie Smith sagte, er hätte sie nach einem Bild aus einem Traum gemalt«, sagte ich.
Mein Vater lachte, bis aus dem Lachen ein Husten wurde. Ich goss ihm schnell ein Glas Wasser aus dem Plastikkrug ein, der auf dem Tischchen neben seinem Bett stand. Nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, wedelte mein Vater mit dem ausgestreckten Zeigefinger in meine Richtung. »Dieser Santé war doch ein echter Schwätzer. Ich weiß, wie er zu diesem Bild gekommen ist. Es gibt ein Foto von deiner Mutter als junges Mädchen, noch zu Hause in Frankreich. Es liegt in der Kommode in meinem Schlafzimmer. Du weißt, welches ich meine.«
»Nein, Dad, ich bin mir nicht sicher.«
Er tat meinen Protest mit einer Handbewegung ab. »Natürlich weißt du es. Santé und deine Mutter redeten so gern über Frankreich. Sie sagte ihm immer, er solle einmal hinfahren … und er müsse unbedingt im Süden malen, wo auch Van Gogh und Cezanne ihre Bilder geschaffen hatten. Wahrscheinlich hat sie ihm dieses Bild
gezeigt, von dem Dorf, in dem sie aufwuchs …« Seine Stimme verebbte. »Santé hat es allerdings nie nach Frankreich geschafft.«
»Bist du jemals mit Mom in dem Dorf gewesen, aus dem sie stammte?«, fragte ich und hoffte, ihn von der Erinnerung an Santé abzulenken.
»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Wir waren einige Male in Paris, und ich schlug auch vor, nach Südfrankreich zu reisen, aber sie sagte, dass sie den Menschen ihres Dorfes niemals vergeben könne.«
»Wieso nicht?«
»Ich glaube, weil sie ihre Mutter nicht vor den Deutschen beschützten. Sie hat mir nie die ganze Geschichte erzählt, aber ich weiß, dass ihre Mutter in den letzten Kriegsjahren starb. Sie wollte nicht darüber reden, und das habe ich akzeptiert.«
»Natürlich«, sagte ich und nahm meines Vaters Hand. Ich wusste, dass er es selbst kaum über sich brachte, von seiner Familie zu erzählen, die er ebenfalls im Krieg verloren hatte.
»Manchmal frage ich mich, ob ich Margot wirklich gekannt habe.«
»Wovon redest du da, Dad? Niemand hat sie so gut gekannt wie du.«
Er schüttelte den Kopf. »Am Tag, als sie starb …« Seine Worte waren ein Krächzen. Er unterbrach sich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und bedeutete mir, ihm das Wasserglas zu reichen.
»Lass doch, Dad, du musst jetzt nicht davon reden.«
Er nahm einen Schluck mit dem Strohhalm, und seine Wangen fielen danach sofort wieder ein. Seit er ins Krankenhaus
gekommen war, hatte er stark abgenommen, und das ließ ihn älter aussehen.
»Am Tag, als sie starb … wollte sie mich verlassen.«
»Was? Dad, wovon redest du? Mom hat mich nach Providence gefahren, weil wir uns die Rhode Island School Of Design ansehen wollten. Wir waren auf dem Weg nach Hause, als der Unfall geschah.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Sie sagte mir, bevor ihr losgefahren seid, dass sie gehen müsse. Sie wollte es dir auf dem Heimweg sagen. Eine Weile habe ich mich gefragt, ob sie das vielleicht auch tat. Du warst im Krankenhaus so hysterisch, dass so etwas durchaus ein Grund dafür hätte sein können. Dann wartete ich, ob du die Sache ansprechen würdest. Als ich dann merkte, dass sie es dir wohl doch nicht erzählt hatte, war es zu spät … es hätte keinen Sinn gehabt und dich nur aufgeregt … aber ich war feige. Ich hatte Angst, wenn du wüsstest, dass deine Mutter mich verlassen wollte, würdest du ebenfalls gehen.«
»Oh, Dad.« Ich streichelte seine Hand. »Selbst wenn es wahr wäre … selbst wenn Mom hätte gehen wollen, ich wäre doch geblieben. Aber wieso …« Ich unterbrach mich und musste daran denken, wie oft sie sich in der Zeit vor dieser Fahrt wegen des Geldes gestritten hatten, wie zornig sie gewesen war, dass er mein Studiengeld für den Warhol ausgegeben hatte, und welcher Aufruhr bei uns zu Hause herrschte, nachdem im Anschluss an den Warhol-Diebstahl der Vorwurf des Versicherungsbetrugs aufgekommen war. Meine Mutter hatte sicherlich genug Gründe gehabt, auf meinen Vater wütend zu sein, obwohl ich mir dennoch nicht vorstellen konnte, dass sie ihn hätte verlassen wollen. Aber andererseits hatte ich offenbar auch
keine Ahnung von einigen anderen Dingen gehabt, beispielsweise davon, dass sie von einer uralten Linie unirdischer Wächterinnen abstammte.
»Vielleicht wollte sie dich nicht länger in meiner Nähe
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